H. Auslegung des EPÜ
In J 16/96 (ABl. 1998, 347) war zu entscheiden, ob ein Zusammenschluss von Vertretern im Sinne von R. 101 (9) EPÜ 1973 auch von zugelassenen Vertretern gebildet werden kann, die nicht freiberuflich tätig sind. Der Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation hatte 1978 auf seiner vierten Sitzung den Beschluss gefasst, dass unter einem Zusammenschluss im Sinne dieser Regel nur ein Zusammenschluss freiberuflich tätiger Vertreter zu verstehen sei. Die Juristische Beschwerdekammer führte aus, die Beschwerdekammern seien bei ihren Entscheidungen an Weisungen nicht gebunden und nur dem Übereinkommen unterworfen (Art. 23 (3) EPÜ 1973). Es bestehe weder eine formelle Bindung der Beschwerdekammern an einen Auslegungsbeschluss des Verwaltungsrats, noch könne ein solcher Beschluss als Weisung für ihre Entscheidungen aufgefasst werden. Jedoch gehöre er zu den relevanten Auslegungselementen. Die Auslegung nach Art. 31 (1) des Wiener Übereinkommens führte die Kammer zu dem Ergebnis, dass ein Zusammenschluss im Sinne der R. 101 (9) EPÜ 1973 auch ein Zusammenschluss nicht freiberuflich tätiger Vertreter sein könne. Die mit dem Auslegungsbeschluss beabsichtigte Beseitigung von Unklarheiten bei der Anwendung von R. 101 (9) EPÜ 1973 sei im Lichte neuerer Entwicklungen im Vertreterwesen nicht gelungen, sodass die Bedeutung des Verwaltungsratsbeschlusses gegenüber den übrigen Auslegungselementen zurücktrete.
In G 3/19 kam die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass die Aufnahme der R. 28 (2) EPÜ angesichts der eindeutigen gesetzgeberischen Absicht der im Verwaltungsrat vertretenen Vertragsstaaten und im Hinblick auf Art. 31 (4) des Wiener Übereinkommens eine dynamische Auslegung des Art. 53 b) EPÜ zulässt und sogar verlangt. In der Vorlageentscheidung (T 1063/18) hatte die Kammer befunden, der Verwaltungsrat sei nach Art. 33 (1) c) EPÜ befugt, die Ausführungsordnung zu ändern, doch erstrecke sich diese Befugnis nicht auf die Änderung eines Artikels des Übereinkommens, hier: Art. 53 b) EPÜ.