4.3.3 Nachveröffentlichte Beweismittel und Stützung auf eine behauptete technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit ("Plausibilität")
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die erfinderische Tätigkeit zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag anhand der im Patent enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen zu beurteilen (G 2/21, ABl. 2023, A85; s. z. B. auch T 1329/04, T 1545/08, T 1433/14, T 488/16, T 1322/17).
Häufig müssen nachveröffentlichte Beweismittel (d. h. Beweismittel, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden) als Nachweis dafür herangezogen werden, dass die Aufgabe gelöst (d. h. die behauptete technische Wirkung tatsächlich erzielt) wurde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die objektive technische Aufgabe z. B. in Anbetracht eines Dokuments des nächstliegenden Stands der Technik, das dem Patentinhaber bis dahin nicht bekannt war, umformuliert werden muss (T 116/18 vom 11. Oktober 2021).
In T 116/18 vom 11. Oktober 2021 war die Kammer der Auffassung, dass sich für Fälle, in denen der Nachweis, dass eine Aufgabe gelöst worden ist, auf solchen nachveröffentlichten Beweismitteln beruht, drei voneinander abweichende Rechtsprechungslinien bezüglich der Voraussetzungen entwickelt haben, unter denen diese Beweismittel berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt werden können. Diese umfassen Folgendes: die strikte Anwendung des Maßstabs der "Ab-initio-Plausibilität", wonach nachveröffentlichte Beweismittel nur dann berücksichtigt werden dürften, wenn der Fachmann angesichts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag Grund zu der Annahmegehabt hätte, dass die behauptete Wirkung erzielt wird, die "Plausibilitätsablehnung", die das sogenannte Plausibilitätskonzept gänzlich abzulehnen scheint, und den Maßstab der "Ab-initio-Unplausibilität", wonach nachveröffentlichte Beweismittel nur dann unberücksichtigt bleiben dürften, wenn der Fachmann berechtigte Zweifel gehabt hätte, dass sich die behauptete technische Wirkung am Anmeldetag des Streitpatents erzielen ließ. In einer Vorlage nach Art. 112 EPÜ legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer insbesondere die Frage vor, ob der Maßstab der Ab-initio-Plausibilität oder der der Ab-initio-Unplausibilität anzulegen sei.
Die Große Beschwerdekammer legte in G 2/21 (ABl. 2023, A85) jedoch das Konzept der "Plausibilität" zugrunde. Sie befand, dass der Begriff "Plausibilität", der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu finden sei und auf den sich die vorlegende Kammer (T 116/18 vom 11. Oktober 2021) in den Fragen 2 und 3 der Vorlageentscheidung und in deren Entscheidungsgründen berufe, kein eigenständiger Rechtsbegriff sei und kein spezifisches Patentrechtserfordernis nach dem EPÜ, insbesondere nicht nach Artikel 56 und 83 EPÜ. Er beschreibe vielmehr ein generisches Schlagwort, das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, von einigen nationalen Gerichten und von Nutzern des europäischen Patentsystems verwendet werde (Nr. 92 der Entscheidungsgründe). Die Große Beschwerdekammer entschied wie folgt:
"1. Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, dürfen nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
2. Ein Patentanmelder oder -inhaber kann sich zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird."
Diese Prinzipien hat die Große Beschwerdekammer auf die genannten Entscheidungen angewandt und ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Ergebnis in keinem einzigen Fall anders ausgefallen wäre als die tatsächliche Feststellung der jeweiligen Beschwerdekammer. Unabhängig von der Verwendung des terminologischen Konzepts der Plausibilität scheinen die angeführten Entscheidungen zu zeigen, dass sich die einzelnen Beschwerdekammern jeweils auf die Frage konzentriert haben, ob die vom Patentanmelder oder -inhaber geltend gemachte technische Wirkung für den Fachmann aus der technischen Lehre der Anmeldungsunterlagen erkennbar war oder nicht.