4.3.6 Im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Vorbringen – fehlerhafte Ermessensausübung – Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK 2020
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Nach ständiger Rechtsprechung ist es, wenn eine Ermessensentscheidung der Prüfungs- oder Einspruchsabteilung, ein Vorbringen nicht zuzulassen, im Beschwerdeverfahren angefochten wird, nicht Aufgabe der Kammer, die Sachlage nochmals wie eine Prüfungs- oder Einspruchsabteilung zu prüfen und zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Die Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass diese ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat (für jüngere einschlägige Entscheidungen s. z. B. T 222/16, T 879/18, T 1695/18, T 435/20, T 214/20, T 1017/20, T 1617/20, T 1004/21, T 1309/21; nicht zu verwechseln mit der Überprüfung einer erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung, siehe T 1138/20). Siehe aber auch T 307/22, wonach materiellrechtliche Feststellungen, auf denen die Ermessensentscheidung beruht, zumindest in bestimmten Fällen – hier gültige Inanspruchnahme einer Priorität – einer Überprüfung zugänglich sind, s. auch Kapitel V.A.3.4.1 c).
Diese ausgehend von G 7/93 entwickelte ständige Rechtsprechung zur eingeschränkten Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen ist in Art. 12 (6) Satz 1 VOBK 2020 kodifiziert worden (T 1617/20). Siehe auch T 214/20 und T 435/20, in denen die Kammern festgestellt haben, dass Art. 12 (6) VOBK 2020 durch den Bezug auf Ermessensfehlerhaftigkeit diese Rechtsprechung widerspiegelt.
Dem Beschwerdeführer obliegt es aufzuzeigen, dass die Einspruchsabteilung ermessensfehlerhaft entschieden hat (T 726/20). Derselbe Grundsatz gilt im Ex-parte-Verfahren. In T 1421/20 beispielsweise wurden die Hilfsanträge in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung vor der Prüfungsabteilung eingereicht, die in Ausübung ihres Ermessens nach R. 137 (3) EPÜ entschied, sie nicht zum Verfahren zuzulassen, weil sie spät eingereicht wurden und prima facie unklar waren. Da der Beschwerdeführer im Hinblick auf diese Anträge im Beschwerdeverfahren keine Argumente vorbrachte, sah die Kammer keinen Grund, die Entscheidung der Prüfungsabteilung infrage zu stellen, und entschied, diese Anträge im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen (Art. 12 (6) VOBK 2020).
In den nachfolgenden Abschnitten ist die Rechtsprechung in Anwendung des Art. 12 (6) Satz 1 VOBK 2020 über die Ermessensfehlerhaftigkeit von Entscheidungen zusammengefasst. Zu den Kriterien für die Ermessensausübung der ersten Instanz siehe die Kapitel IV.B.2.4 (Prüfungsverfahren) bzw. IV.C.4.5 und IV.C.5.1.4 (Einspruch). Zur Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen durch die Beschwerdekammern siehe auch IV.C.4.5.2 und V.A.3.4.1.
Wurde das Ermessen nicht ermessensfehlerfrei ausgeübt (oder ist dies nicht mehr nachvollziehbar), so greift der Vorbehalt in Art. 12 (6) Satz 1 VOBK 2020 nicht, und die Kammer übt ihr eigenes Ermessen aus (T 1657/20).
Art. 12 (6) Satz 1 VOBK 2020 sieht zwei Kriterien vor, die die Zulassung eines Antrags rechtfertigen können: eine ermessensfehlerhafte Entscheidung (der erstinstanszlichen Abteilung) oder Umstände der Beschwerdesache (T 726/20).