6. Ausführbarkeit
Die ausreichende Offenbarung muss am wirksamen Datum des Patents gegeben sein, während nachveröffentlichte Dokumente (post-published documents) nur unter bestimmten Umständen als Nachweis dafür verwendet werden können, dass die Offenbarung ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeitbar ist.
Fehlt in der Patentschrift ein handfester Beweis dafür, dass sich die beanspruchte Idee praktisch umsetzen lässt, so können nachveröffentlichte Dokumente als Nachweis dafür verwendet werden, dass die lediglich allgemein-abstrakt offenbarte Erfindung am maßgeblichen Anmeldetag tatsächlich ohne unzumutbaren Aufwand nachgearbeitet werden konnte (T 994/95 und T 157/03). In T 1262/04 vom 7. März 2007 date: 2007-03-07 stellte die Kammer fest, dass dieser Grundsatz zumindest in Fällen wie dem vorliegenden gelte, in denen die in der Anmeldung offenbarte technische Lehre glaubhaft erscheine. In T 1205/07 wurden die nachträglich veröffentlichten Dokumente berücksichtigt, da die darin enthaltenen Nachweise nicht eine angeblich unzureichende Offenbarung "heilen", sondern die Lehren der Anmeldung untermauern sollten. S. auch T 1547/08.
Obwohl die ausreichende Offenbarung grundsätzlich am Prioritätstag nachgewiesen werden muss, können nachveröffentlichte Dokumente als Nachweis dafür verwendet werden, dass sich die beanspruchte Idee praktisch umsetzen lässt. Dementsprechend entschied die Kammer in T 1164/11, die betreffenden Dokumente trotz ihrer verspäteten Einreichung zuzulassen.
Dass Versuchsdaten erst nach dem Anmeldetag der vorliegenden Anmeldung veröffentlicht wurden, beeinträchtigte sie nicht in ihrer Eigenschaft als Nachweis physikalischer Phänomene, die unabhängig von einem Veröffentlichungsdatum auftreten (T 416/14).
Ist eine Offenbarung insofern eindeutig unzureichend, als nicht angegeben wird, wie ein bestimmter Aspekt der Erfindung ausgeführt werden soll, so kann die mangelnde Offenbarung nicht durch einen Hinweis auf spätere Dokumente behoben werden, denen zu entnehmen ist, wie die Ausführung zu einem späteren Zeitpunkt bewerkstelligt wurde (T 222/00). Es muss grundsätzlich nachgewiesen werden, dass die ausreichende Offenbarung zu dem für das Patent maßgeblichen Zeitpunkt gegeben war. Enthält die Beschreibung in der Patentschrift nichts als einen vagen Hinweis auf eine mögliche, noch zu bestimmende medizinische Verwendung einer chemischen Verbindung, so können spätere genauere Nachweise die grundlegende mangelnde Offenbarung des betreffenden Gegenstands nicht heilen (T 609/02). Offenbarungen in nachveröffentlichten Dokumenten können bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung nur dann berücksichtigt werden, wenn sie die positiven Feststellungen in Bezug auf die Offenbarung in einer Patentanmeldung stützen (T 1273/09 mit Verweis auf T 609/02). Nachträglich veröffentlichte Beweisstücke können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie die in der Anmeldung enthaltenen Feststellungen in Bezug auf die Verwendung der Verbindung(en) als Arzneimittel stützen (T 609/02, T 950/13, s. Kapitel II.C.7.2.2 c)).
In T 1329/11 verwiesen die Beschwerdegegner (Patentinhaber) auf nachveröffentlichte Dokumente, insbesondere auf Dokument D8, das über fünf Jahre nach dem Prioritätstag veröffentlicht wurde, um nachzuweisen, dass das beanspruchte Verfahren funktionierte. Der Inhalt von Unterlagen, die dem Fachmann am Prioritätstag nicht zur Verfügung standen, können nicht dazu beitragen, das wesentliche Problem der ausreichenden Offenbarung am Prioritätstag zu beheben.
In T 2070/13 stellte die Kammer fest, dass D16 – eine Patentschrift – keinerlei Hinweise auf die Bestimmung der Antihaftfähigkeit enthielt; das Dokument wurde im Rahmen des streitigen Patents nachveröffentlicht, und seine Offenbarung hatte daher keine Bedeutung für dessen ausreichende Offenbarung.
In T 1255/11 hielt die Kammer es für erwiesen, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung auf der Grundlage der wissenschaftlichen Literatur eine vollständige theoretische Erklärung für die Behandlung von Alzheimer mit MCT lieferte. Da das Vorliegen der beanspruchten Wirkung durch eine Erläuterung des theoretischen Hintergrunds in der eingereichten Fassung der Anmeldung plausibel nachgewiesen wurde, konnte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) nachträglich veröffentlichte Beweisstücke vorlegen.
In T 59/18 ging es um Reihen von Patentschriften im Hinblick auf die Feststellung des allgemeinen Fachwissens; die Kammer entschied letztlich, dass jede etwaige Definition des Begriffs "Relaxationsrate" in nachveröffentlichten Dokumenten ohne einen konkreten Hinweis darauf, dass die Bedeutung dieses Begriffs bereits Teil eines älteren Stands der Technik war, keinen indirekten Hinweis auf das allgemeine Fachwissen darstellen konnte. Nur eines der vom Beschwerdeführer eingereichten Patentdokumente enthielt eine Definition einer Relaxationsrate. Daraus konnte daher nicht abgeleitet werden, dass es eine Reihe von Patentschriften gab, die ein einheitliches Bild im Sinne der T 412/09 lieferten.
Die Frage der nachveröffentlichten Beweismittel gab in T 116/18 (ABl. 2022, A76) Anlass zur Befassung der Großen Beschwerdekammer (G 2/21). Die Vorlage betraf im Wesentlichen die Frage der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ); der Patentinhaber verwies auf ein nachveröffentlichtes Beweismittel, um darzulegen, dass die Aufgabe gelöst und die angebliche technische Wirkung tatsächlich erreicht werde. Die Kammer definiert dort den Begriff "nachveröffentlichtes Beweismaterial". Die Kammer in T 116/18 ermittelte drei große Rechtsprechungslinien: T 1329/04, T 609/02, T 488/16, T 415/11, T 1791/11 und T 895/13 vom 21. Mai 2015 date: 2015-05-21 (Ab-initio-Plausibilität – die Plausibilität wurde in diesen Entscheidungen letztlich verneint); T 919/15, T 578/06, T 2015/20, T 536/07, T 1437/07, T 266/10, T 863/12, T 184/16 (Ab-initio-Implausibilität – die Plausibilität wurde in diesen Entscheidungen letztlich bejaht); T 31/18, T 2371/13 (keine Rechtsprechungslinie zur Plausibilität). Die Kammer bemerkte weiter, dass die Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt werden können, auch im Kontext der ausreichenden Offenbarung aufgeworfen wurde, weil die Wirkung in dem betreffenden Anspruch angegeben wurde. Ob eine Wirkung Teil der zu lösenden Aufgabe ist bzw. in dem betreffenden Anspruch angegeben wird, bestimmt zwar, welche Vorschrift des EPÜ anwendbar ist (G 1/03 (ABl. 2004, 413), Nr. 2.5.2 der Gründe), hat nach Ansicht der Kammer jedoch keinen Einfluss auf die Überlegungen, die auf die obige Frage Anwendung finden. In T 116/18 wurde eingehend erörtert, ob nachveröffentlichte Beweismittel aus materiellrechtlichen Gründen je nach Plausibilität der technischen Wirkung auf der Grundlage der vorgelegten Beweismittel berücksichtigt werden können. In diesem Zusammenhang wurden Aspekte des Monopolrechts, des technischen Beitrags und des Gewichts von Spekulationen erörtert.
S. auch dieses Kapitel II.C.7.2. "Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei einer medizinischen Verwendung – Plausibilität".