2.6.4 Einführung von neuem Vorbringen
i) Allgemeines
Nach gefestigter Rechtsprechung kann eine Beschwerdebegründung auch dann als ausreichend angesehen werden, wenn ein neuer Tatbestand vorgebracht wird, der der Entscheidung die rechtliche Grundlage entzieht (T 252/95, T 760/08), insbesondere durch die Einreichung neuer Anspruchssätze (T 934/02, T 2226/13). Eine Beschwerde wird nicht zwangsläufig unzulässig, wenn der Beschwerdeführer geänderte Ansprüche einreicht und das Patent ausschließlich auf der Grundlage der mit der Beschwerdebegründung geänderten Ansprüche verteidigt (T 1320/19).
In T 655/03 wurde ausgeführt, dass eine Beschwerde des Patentinhabers im Hinblick auf die Anforderungen des Art. 108 Satz 3 EPÜ auch dann als ausreichend begründet gilt, wenn sie die Gründe, aus denen die Entscheidung angefochten wird, nicht eigens angibt, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind: der Gegenstand des Verfahrens hat sich durch die Einreichung von geänderten Ansprüchen mit der Beschwerdebegründung geändert, und die Gründe für die Entscheidung sind angesichts der geänderten Ansprüche nicht mehr zutreffend. S. auch T 717/01, T 934/02 und T 1708/08).
Die Kammer in T 934/02 führte weiter aus, dass es demnach nicht nur unnötig, sondern für die angemessene Begründung einer Beschwerde auch widersinnig wäre, eine Begründung einzureichen, mit der eine Anspruchsfassung gestützt wird, die der Beschwerdeführer (Patentinhaber) im Beschwerdeverfahren nicht mehr verteidigt. S. auch T 1197/03 und T 642/05. Ist die Anmeldung jedoch nicht deswegen zurückgewiesen worden, weil der vorgelegte Anspruchssatz nicht gewährbar war, sprich wegen mangelnder Klarheit, Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit, sondern deswegen, weil es keinen von beiden Seiten gebilligten Anspruchssatz gab, so ist die Einreichung neuer Ansprüche keine adäquate Reaktion (T 573/09); in der Beschwerdebegründung hätte vielmehr dargelegt werden müssen, warum dem Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Fortsetzung des Verfahrens vor der Kammer hätte eingeräumt werden sollen.
In T 2532/11 stellte sich die Frage, ob neu eingereichte Anträge als implizite Beschwerdebegründung betrachtet werden können. Eine durch geänderte Ansprüche gestützte Beschwerdebegründung könnte zumindest implizit abstecken, in welchem Umfang der Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung wünscht. Die Kammer stellte fest, dass überprüft werden muss, ob die Beschwerde in dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rahmen begründet ist; dabei kann sie aber nicht über die Gründe mutmaßen, geschweige denn, dem Beschwerdeführer die Begründung abnehmen. Zwischen der angefochtenen Entscheidung und der Beschwerdebegründung muss ein direkter Zusammenhang bestehen, welcher in diesem Fall nicht gegeben war.
Dabei kommt es für die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde nicht darauf an, ob die geänderten Ansprüche in weiterer Folge von der Kammer ins Verfahren zugelassen werden oder ob der Vortrag des Beschwerdeführers letztlich überzeugend ist (T 2558/16). Inwiefern geänderte Ansprüche, die mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, berücksichtigt werden, steht im Ermessen der Beschwerdekammern nach Art. 12 (4) VOBK 2020, s. ausführlich dazu Kapitel "Neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren", V.A.4.3. "Erste Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen in der Beschwerdebegründung und Erwiderung – Artikel 12 (3) bis (6) VOBK 2020".
ii) Ausreichende Begründung für die Einreichung geänderter Ansprüche
– Patentinhaber
Für die Zulässigkeit einer Beschwerde ist es nicht unbedingt erforderlich, dass der Beschwerdeführer die Entscheidung der Einspruchsabteilung als fehlerhaft angreift. Wurden geänderte Ansprüche eingereicht, so kann eine Beschwerde auch zulässig sein, wenn in der Beschwerdebegründung ausreichende Gründe angegeben werden, warum die Änderungen geeignet sind, die von der Einspruchsabteilung gerügten Mängel auszuräumen (T 1668/14, s. auch T 278/15, T 1311/17, T 1320/19). In T 1610/15 fügte die Beschwerdekammer hinzu, dass es für die Zulässigkeit der Beschwerde nicht darauf ankommt, ob der Vortrag des Beschwerdeführers letztlich überzeugend ist oder ob die geänderten Ansprüche in weiterer Folge von der Kammer ins Verfahren zugelassen werden. S. auch T 1320/19.
Allerdings genügt die bloße kommentarlose Einreichung eines neuen Anspruchssatzes nicht. Vielmehr hat der Beschwerdeführer zu begründen, warum und in welchem Umfang der geänderte Anspruchssatz den tatsächlichen und rechtlichen Würdigungen, auf die die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung gestützt hat, Rechnung trägt und ihnen soweit abhilft, dass die Entscheidung aufzuheben ist (T 220/83; ABl. 1986, 249 und T 145/88).
Mit den Änderungen soll den Gründen der angefochtenen Entscheidung Rechnung getragen werden (T 2453/09). S. auch T 1533/13.
In T 1276/05 kehrte der Patentinhaber (Beschwerdeführer) zu einer Anspruchsfassung zurück, die er im Einspruchsverfahren zurückgenommen hatte, nämlich zu der Fassung gemäß dem erteilten Patent, ohne sich dazu zu äußern, warum er die angefochtene Entscheidung für falsch hielt. Die Kammer stellte fest, dass auf eine Begründung verzichtet werden konnte, weil eine besondere Situation gegeben war, in der – ausnahmsweise – die vorgeschlagenen Änderungen die Gründe für die Entscheidung hinfällig machten; deshalb war die Beschwerde zulässig.
– Anmelder
In T 933/09 stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdeführer durch das bloße Einreichen geänderter Ansprüche nicht von seiner Verpflichtung befreit wurde, in der Beschwerdebegründung ausdrücklich anzugeben, inwiefern diese Änderungen dazu dienten, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Einwände auszuräumen.
Außerdem ist die bloße Einreichung geänderter Ansprüche zusammen mit der Beschwerdebegründung nicht ausreichend, wenn die Zurückweisungsgründe im vorliegenden Fall nicht ausgeräumt werden. In T 1707/07 ging der Beschwerdeführer auf die in der angefochtenen Entscheidung angeführten Gründe nicht ein, sodass für die Kammer nicht klar war, warum die angefochtene Entscheidung falsch sein sollte. Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen. S. auch T 502/02 und T 132/03.
Die Beschwerdebegründung im Falle T 295/04 enthielt nur einen pauschalen Verweis auf einen während des erstinstanzlichen Verfahrens eingereichten Schriftsatz und neue Ansprüche. Ein solcher pauschaler Verweis konnte aber nicht als Ausführung dazu angesehen werden, aus welchen Gründen die Entscheidung der ersten Instanz abgeändert werden soll. Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen.