4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
In G 3/97 und G 4/97 (ABl. 1999, 245 und 270) hielt die Große Beschwerdekammer fest, dass ein Einspruch – wenn der als Einsprechende gemäß R. 76 (2) a) EPÜ (ehemalige R. 55 a) EPÜ 1973) Genannte im Auftrag eines Dritten handelt – dann unzulässig ist, wenn das Auftreten des Einsprechenden als missbräuchliche Gesetzesumgehung anzusehen ist. Das Vorliegen einer missbräuchlichen Gesetzesumgehung muss auf der Grundlage eines klaren und eindeutigen Beweises zur Überzeugung des entscheidenden Organs feststehen.
In T 291/97 hatte der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdebegründung behauptet, das Dokument (1) sei infolge eines offensichtlichen Missbrauchs im Sinne von Art. 55 (1) a) EPÜ veröffentlicht worden und gehöre somit nicht zum Stand der Technik, der den strittigen Ansprüchen entgegengehalten werden könne. Die Kammer entschied, dass diese Veröffentlichung für die Anwendung des Art. 54 EPÜ in Betracht kommt. Sie bemerkte in ihrer Entscheidung, dass es sich bei der Feststellung eines offensichtlichen Missbrauchs nach Art. 55 (1) a) EPÜ um eine ernste Angelegenheit handelt. Ein Missbrauch darf nicht leichtfertig angenommen werden. Der Maßstab bei der Beweiswürdigung sei an der Wortwahl "offensichtlicher Missbrauch" (englisch "evident abuse", französisch "un abus évident") als hoch zu erkennen: Die Sache muss eindeutig sein; in einem zweifelhaften Fall wird nicht zugunsten des Anmelders entschieden. Die im vorliegenden Fall eingereichten Beweismittel entsprachen nicht diesen Anforderungen (s. auch T 41/02).
In der Sache J 14/19 (Aussetzung des Verfahrens) warf der Beschwerdeführer (Anmelder) dem Beschwerdegegner vor, das Erteilungsverfahren rechtsmissbräuchlich zu verzögern. Die Kammer stellte fest, dass die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechts unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen kann. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft. (Gleicher Beweisstandard in T 2951/18 in Bezug auf einen Beitretenden).
In D 5/86 (ABl. 1989, 210) vertrat die Kammer die Auffassung, die Verhängung einer Disziplinarstrafe setze voraus, dass eine Verletzung beruflicher Regeln zur Überzeugung des Disziplinarorgans festgestellt werden könne. Für diese Feststellung sei zwar keine absolute Gewissheit erforderlich, jedoch ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, dass er nach der Lebenserfahrung der Gewissheit gleichkomme. Eine Disziplinarmaßnahme könne nicht verhängt werden, wenn gegen die Feststellung, dass eine berufliche Regel verletzt sei, vernünftige Zweifel geltend gemacht werden könnten.