4. Bestimmung der Offenbarung des einschlägigen Stands der Technik
Es ist nicht zulässig, verschiedene Teile des Stands der Technik miteinander zu verbinden. Ebenso wenig ist es zulässig, verschiedene Bestandteile unterschiedlicher Ausführungsformen, die in ein und demselben Dokument beschrieben sind, miteinander zu verbinden, sofern nicht im Dokument selbst eine solche Verbindung nahegelegt wird (T 305/87). Ebenso wenig dürfen bei der Beurteilung der Neuheit, wie die Kammer in T 1988/07 betonte, verschiedene Passagen eines Dokuments kombiniert werden, sofern das Dokument nicht ausdrücklich eine entsprechende Lehre enthält. Enthält jedoch eine Vorveröffentlichung (das "Hauptdokument") einen ausdrücklichen Hinweis auf eine andere Vorveröffentlichung, kann dies zur Folge haben, dass bei der Auslegung des Hauptdokuments (d. h. bei der Ermittlung seines Sinngehalts für den Fachmann) die Offenbarung der zweiten Vorveröffentlichung ganz oder teilweise als Bestandteil der Offenbarung des Hauptdokuments, d. h. als Einbeziehung durch Verweis, angesehen werden muss (vgl. T 153/85, ABl. 1988, 1; T 645/91; T 942/91; T 422/92; T 866/93; T 239/94; T 221/05; s. auch unten T 610/95).
Ein beanspruchter Gegenstand ist nur dann nicht neu, wenn in einer Offenbarung aus dem Stand der Technik eine "klare und unmissverständliche Lehre" einer Kombination der beanspruchten Merkmale zu finden ist (T 450/89, T 677/91, T 447/92 und T 511/92).
Wird die Neuheit eines Anspruchs bestritten, so darf der Inhalt eines Dokuments nicht als so etwas wie ein Reservoir behandelt werden, aus dem Merkmale verschiedener Ausführungsformen entnommen werden können, um künstlich eine bestimmte neuheitsschädliche Ausführungsform zu konstruieren, wenn das Dokument selbst eine solche Merkmalskombination nicht nahelegt. Dies wird beispielsweise durch die Entscheidung T 450/89 bestätigt, in der es heißt, dass "nicht auf fehlende Neuheit geschlossen werden darf, wenn das zum Stand der Technik gehörende Dokument keine klare und unmissverständliche Offenbarung des Gegenstands der späteren Erfindung enthält" (s. hierzu auch T 677/91, T 763/07).
In T 305/87 (ABl. 1991, 429) wurde klargestellt, dass es bei der Beurteilung der Neuheit nicht genügt, den Inhalt eines Dokuments pauschal zu berücksichtigen; es muss vielmehr jede in dem Dokument beschriebene Einheit für sich betrachtet werden. Es sei nicht zulässig, verschiedene Bestandteile jeweils spezifischer Ausführungsarten, die in ein und demselben Dokument beschrieben seien, allein deshalb miteinander zu verbinden, weil sie in eben diesem Dokument offenbart würden, sofern nicht im Dokument selbst eine solche Verbindung nahegelegt werde. Bei den beiden vorveröffentlichten Scheren handle es sich um zwei spezifische Gebilde, die zwei voneinander unabhängige und bei der Beurteilung der Neuheit getrennt zu betrachtende Vergleichsgrundlagen darstellten; es sei nicht zulässig, aus den Merkmalen des einen und/oder des anderen Gebildes – auch wenn beide in ein und demselben Dokument offenbart würden – künstlich einen Stand der Technik von größerer Bedeutung herzustellen (vgl. T 901/90, T 931/92, T 739/93, T 763/07).
In T 332/87 erinnerte die Kammer zunächst daran, dass die Offenbarung eines Dokuments in der Regel in einer Gesamtbetrachtung zu würdigen ist, und stellte fest, dass bei der Neuheitsprüfung unterschiedliche Passagen eines Dokuments miteinander kombiniert werden dürften, sofern der Fachmann eine solche Kombination nicht aus irgendwelchen Gründen unterlassen würde. Generell dürfe die technische Lehre von Beispielen mit der an anderer Stelle im selben Dokument – etwa in der Beschreibung einer Patentschrift – offenbarten Lehre kombiniert werden, vorausgesetzt, das betreffende Beispiel sei wirklich repräsentativ oder im Einklang mit der allgemeinen technischen Lehre, die in dem Dokument offenbart werde (s. auch T 1630/07, T 2188/08, T 1239/08, T 568/11).
Entsprechend der ständigen Rechtsprechung umfasst der Offenbarungsgehalt einer Patentschrift nicht die Kombination von Einzelmerkmalen, die in separaten abhängigen Ansprüchen beansprucht werden, es sei denn, ihre Kombination findet eine Stütze in der Beschreibung (vgl. T 525/99, T 496/96, T 42/92).
In T 42/92 führte die Kammer aus, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA der Offenbarungsgehalt einer vorveröffentlichten Patentschrift als Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ 1973 nur diejenigen Merkmale umfasst, die ein Fachmann des betreffenden technischen Gebietes dem Gesamtdokument widerspruchsfrei entnimmt. Der als Stand der Technik zu würdigende Offenbarungsgehalt einer Patentschrift umfasst jedoch nicht durch Anspruchsrückbeziehungen entstandene Merkmalskombinationen von Einzelmerkmalen, die aus patentrechtlichen Überlegungen in separaten Ansprüchen beansprucht wurden und deren Kombination in der Beschreibung keine Stütze findet oder gar – wie im vorliegenden Fall – in Widerspruch zu den in der Beschreibung stehenden Ausführungsbeispielen steht.
Im Fall T 610/95 (Einbeziehung durch Verweis) galt es zu entscheiden, ob die im Patent vorgeschlagene Lösung unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung der Entgegenhaltung 2 hergeleitet werden konnte, die Bezugnahmen auf den gesamten Inhalt dreier Patentschriften enthielt, aber keiner davon Vorrang einräumte. Jede dieser Patentschriften enthielt eine Vielzahl verschiedener Möglichkeiten zur Herstellung druckempfindlicher Schichten medizinischer Verbände. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass man unter diesen Umständen nicht behaupten könne, die Verwendung eines bestimmten Erzeugnisses als druckempfindliches Material in der beanspruchten Erfindung könne unmittelbar und eindeutig aus der in der Entgegenhaltung 2 angeführten, völlig allgemeinen Bezugnahme auf die drei verschiedenen Vorveröffentlichungen hergeleitet werden und sei der Öffentlichkeit daher bereits zugänglich gemacht.