7.1. Erste medizinische Verwendung
In T 128/82 (ABl. 1984, 164) ging die Kammer im Rahmen der Thematik der ersten medizinischen Indikation auf die Breite des zweckgebundenen Stoffanspruchs ein. Die Prüfungsabteilung hatte die Zurückweisung damit begründet, dass die Anmeldung nicht die Bedingungen der Art. 52 (4) und Art. 54 (5) EPÜ 1973 (jetzt Art. 53 c) und 54 (4) EPÜ) erfülle, weil die Ansprüche nicht auf die spezifisch erstmals gefundene therapeutische Verwendung der bekannten Verbindungen beschränkt seien. Die Kammer sah sich vor die Frage gestellt, ob die breite Fassung der Ansprüche hinsichtlich Art. 54 (5) EPÜ 1973 zulässig ist, und musste insbesondere klären, ob das EPÜ 1973 eine Rechtsgrundlage für eine eng auszulegende, begrenzte therapeutische Zweckbestimmung bietet. Nach Meinung der Beschwerdekammer ist dem Übereinkommen weder ein Verbot noch ein Gebot einer unbeschränkten Zweckbestimmung zu entnehmen. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass gemäß Art. 54 (5) EPÜ 1973 ein zweckbestimmter Stoffanspruch, der eine generelle therapeutische Zweckbestimmung enthält, gewährbar ist. Wenn ein bekannter Stoff erstmals für die Therapie bereitgestellt und beansprucht wird, führt die Tatsache, dass anmeldungsgemäß eine spezifische Anwendung offenbart ist, zu keiner Einschränkung des zweckgebundenen Stoffanspruchs auf diese Anwendung (s. auch T 43/82 und T 36/83, ABl. 1986, 295).
Die Kammer stellte fest, dass gemäß Art. 54 (5) EPÜ 1973 eine bekannte, aber bisher therapeutisch nicht genutzte Verbindung als neu gilt. Die Neuheit wird allerdings nicht nur dadurch zerstört, dass dieselbe spezifische therapeutische Wirkung schon zum Stand der Technik gehört; vielmehr ist auch die Veröffentlichung jeder anderen spezifischen therapeutischen Anwendung neuheitsschädlich. Die Veröffentlichung jeder spezifischen Wirkung hat also immer dieselben Folgen für die Neuheit. Dann aber ist es nur billig, eine breite Zweckbestimmung, die folglich beliebige spezifische Indikationen umfasst, als gewährbar anzuerkennen.