2.6. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
Overview
Das in Art. 116 (1) EPÜ geregelte Recht auf eine mündliche Verhandlung ist ein wesentlicher Bestandteil des durch Art. 113 (1) EPÜ garantierten rechtlichen Gehörs (T 209/88, T 862/98, T 1050/09). Der Anspruch auf rechtliches Gehör in einer mündlichen Verhandlung besteht so lange, wie das Verfahren vor dem EPA anhängig ist (T 598/88, T 556/95, T 114/09).
Das in Art. 113 (1) EPÜ verbriefte Recht, sich zu äußern, muss nicht unbedingt schriftlich ausgeübt werden; ihm kann durch eine mündliche Verhandlung entsprochen werden (T 1237/07). Das bedeutet jedoch nicht, dass es Aufgabe einer Beschwerdekammer ist, von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle Punkte, die zu irgendeinem Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens aufgeworfen worden sind, in der mündlichen Verhandlung besprochen werden. Es obliegt den Parteien, einen Punkt, den sie für relevant halten und der ihrer Ansicht nach übersehen werden könnte, anzusprechen und – gegebenenfalls mit einem formalen Antrag – auf seiner Behandlung zu bestehen (R 17/11). Dies gilt auch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (T 7/12).
In T 2232/11 entschied die Kammer, die bloße Ankündigung eines weiteren Vortrags auf der Grundlage weiterer Dokumente zu Beginn der Diskussion über die Ausführbarkeit der Erfindung reiche nicht aus, um eine Verpflichtung der Prüfungsabteilung zu begründen, dieser bloßen Ankündigung im Rahmen der mündlichen Verhandlung von Amts wegen nachzugehen. Es lag daher im Verantwortungsbereich der Anmelderin die Prüfungsabteilung erforderlichenfalls mit einem förmlichen Antrag darauf aufmerksam zu machen, dass ein weiterer Vortrag zu diesem Thema beabsichtigt sei. Angesichts dieser Verfahrenssituation, musste die Anmelderin damit rechnen, dass die Prüfungsabteilung nach Unterbrechung der Verhandlung und anschließender Beratung zu einer Endentscheidung gelangen könnte.
Umgekehrt kann Art. 113 (1) EPÜ nicht so ausgelegt werden, dass das rechtliche Gehör eines Beteiligten bereits erfüllt ist, wenn ein Beteiligter, der eine mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ beantragt hat, sich schriftlich äußern konnte. Würde man dieser Auslegung des Art. 113 (1) EPÜ folgen, so wäre das Recht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ überflüssig, was die nicht hinnehmbare Konsequenz hätte, dass eine Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer zu einer kontroversen Streitfrage, die im schriftlichen Verfahren erörtert wurde, gleich zu Beginn der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung erlassen könnte, ohne die Beteiligten zu hören (T 1077/06).
Die Nichtbeachtung eines Antrags auf mündliche Verhandlung enthält dem Beteiligten eine wichtige Gelegenheit vor, seine Sache in der von ihm beabsichtigten Weise und unter Nutzung der ihm nach dem EPÜ gebotenen Möglichkeiten vorzubringen. Aufgrund des Antrags auf mündliche Verhandlung kann sich der Beschwerdeführer darauf verlassen, dass er vor Erlass einer ihn beschwerenden Entscheidung Gelegenheit haben wird, seine Sache mündlich vorzutragen, und er hat daher keinen Anlass zu einer vorherigen weiteren schriftlichen Stellungnahme gehabt (s. T 209/88, T 1050/09; s. auch Kapitel III.C.2. "Das Recht auf mündliche Verhandlung").
Eine wirksame und effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung unterliegt zwar dem Ermessen des Vorsitzenden, muss aber dennoch gewährleisten, dass die grundlegenden Verfahrensrechte jedes Beteiligten im kontradiktorischen Verfahren, d. h. das Recht auf faire und gleiche Behandlung sowie das Recht, sich in der mündlichen Verhandlung zu äußern (Art. 113 (1) und 116 EPÜ), gewahrt sind (T 1027/13; s. auch Kapitel IV.C.6.1. "Grundsatz der Gleichbehandlung").
Die Weigerung der Prüfungsabteilung, in der mündlichen Verhandlung Ausführungen eines Beteiligten zu Protokoll zu nehmen, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (T 1055/05).
Das rechtliche Gehör eines Beteiligten nach Art. 113 (1) EPÜ impliziert kein eigenes rechtliches Gehör seines Vertreters und damit kein Recht auf mündliche Verhandlung beim EPA per Videokonferenz (T 2068/14; s. auch Kapitel III.C.7.3. "Mündliche Verhandlung als Videokonferenz").
In T 1414/18 befand die Kammer, dass eine vor der endgültigen Entscheidung über die Zurückweisung einer Patentanmeldung abgegebene Erklärung wie "der nächste Verfahrensschritt ist die Ladung zur mündlichen Verhandlung, in der die Anmeldung zurückgewiesen wird", den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen und so zu einem wesentlichen Verfahrensmangel führen kann. Die Formulierung "[wird] zurückgewiesen" impliziere – auf objektiver Basis –, dass die Anmeldung letztendlich gemäß Art. 97 (2) EPÜ zurückzuweisen sei, ungeachtet etwaiger Tatsachen oder Argumente, die der Anmelder möglicherweise noch hätte vorbringen können. Eine solche Verfahrensführung widerspreche dem Ziel und Zweck des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 113 (1) EPÜ.
- T 423/22
- Catchword/headnote...
- T 2024/21
Catchword:
Examining division's continual refusal to appoint oral proceedings rendered the appellant's request for oral proceedings futile. Withdrawal of the request for oral proceedings under these circumstances does not absolve the examining division from its duty to hold oral proceedings (Reasons 1.5).
- T 1558/21
Catchword:
1. Entspricht der Antrag, der der Entscheidung der Einspruchsabteilung zugrunde liegt, zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht dem Willen einer Partei, so ist diese Partei beschwert und ihre Beschwerde gegen die Entscheidung zulässig (Punkt 1.1 der Entscheidungsgründe). 2. Die Kammer sieht es als erwiesen an, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht auf der beabsichtigten Fassung des Hilfsantrags beruht, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde. Im vorliegenden Fall hat die Einspruchsabteilung entweder über den falschen Antrag entschieden, der nicht dem Tenor der Entscheidung entspricht, oder aber über einen Antrag, zu dem die Parteien nicht gehört wurden. Beides stellt einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, und daher ist die Entscheidung aufzuheben (Punkte 3.4 - 3.6 der Entscheidungsgründe). 3. Ein Fehler in einem während der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssatz, der Teil einer in der mündlichen Verhandlung verkündeten Entscheidung geworden ist, ist weder einer späteren Korrektur über Regel 140 EPÜ zugänglich, noch über Regel 139 EPÜ, sofern es ihm an der Offensichtlichkeit mangelt (Punkte 5.1 - 5.5 der Entscheidungsgründe).
- R 12/22
Zusammenfassung
Der Antrag auf Überprüfung in R 12/22 wurde darauf gestützt, dass die angefochtene Entscheidung in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet sei, und – ebenfalls in mehrfacher Hinsicht – ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ vorliege.
Die Große Beschwerdekammer (GBK) erörterte zunächst, dass ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach R. 102 g) EPÜ nicht von Art. 112a (2) d) EPÜ erfasst sei. Sie verwies auf die in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Grundsätze zum Umfang der Begründungspflicht. Die von der Antragstellerin zitierte Aussage aus der Kommentarliteratur, das Korrelat zum Äußerungsrecht nach Art. 113 (1) EPÜ bilde die Pflicht, die Entscheidungen zu begründen, müsse im Einklang mit diesen Grundsätzen stehen. Eine Behandlung des Geäußerten in den Entscheidungsgründen sei nur unter den in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Voraussetzungen vom Recht auf rechtliches Gehör gefordert. Hingegen beinhalte das Recht auf rechtliches Gehör neben dem Äußerungsrecht das Recht auf Berücksichtigung des Geäußerten. Wenn ein Schlagwort zur Charakterisierung dieser Beziehung als nützlich empfunden werden sollte, dann würde sich der Kammer zufolge der Begriff "Korrelat" hier eignen.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) d) EPÜ, stellte die GBK fest, dass die Antragstellerin sich weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (R. 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (R. 104 b) EPÜ) berufen hatte, weshalb der Überprüfungsantrag diesbezüglich für unbegründet befunden wurde.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) c) EPÜ, befand die GBK unter anderem Folgendes:
G 1/21 habe klargestellt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bedeute. Die Auffassung der Antragstellerin, eine nur theoretische Möglichkeit verschlechterter Kommunikation und Austauschmöglichkeit stelle bereits einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ dar, stehe in diametralem Gegensatz zu G 1/21. In Bezug auf Art. 15a VOBK betonte die GBK, dass eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen könne, wenn ein konkreter praktischer Mangel weder behauptet noch ersichtlich sei.
In Bezug auf die beanstandete Zulassung des Vortrags einer Begleitperson stellte die GBK klar, dass es auf einen abstrakten Verstoß gegen die in G 4/95 aufgestellten Zulassungsvoraussetzungen bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör nicht ankommen könne. Denn letzteres Recht beziehe sich auf die Möglichkeit, auf den Inhalt konkreter Äußerungen angemessen reagieren zu können, nicht auf das Recht, diesen Inhalt durch eine zum umfassenden Vortrag berechtigte und von einem zugelassenen Vertreter hierbei beaufsichtigte Begleitperson präsentiert zu bekommen.
In Bezug auf den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge der kurzfristigen Umbesetzung der zuständigen Beschwerdekammer stellte die GBK unter anderem fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folge, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen.
Zu dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge einer "fehlerhaften und widersprüchlichen Beurteilung" des streitpatentgemäßen Gegenstands, stellte die GBK klar, dass dies nur dann beanstandet werden könnte, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit wären, dass die Kammer das Vorbingen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hätte und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles gewesen wäre. Dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend mit einer Nicht-Begründung ist, müsse sich aufdrängen.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als offensichtlich unbegründet verworfen.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”