4.3.4 Ermessen nach Artikel 12 (4) VOBK 2020
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern – und wie in Art. 12 (2) VOBK 2020 ausdrücklich bestätigt – besteht das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens darin, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. Es ist nicht Zweck des Beschwerdeverfahrens, der durch die angefochtene Entscheidung beschwerten Partei eine zweite Gelegenheit für ein neues Vorbringen ("new case") zu geben (T 1881/19).
Das Beschwerdeverfahren ist weder die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens noch ein zweites, paralleles Verfahren, das von Patentanmeldern genutzt werden kann, wie es ihnen beliebt (T 1120/20). Dies gilt auch für zweiseitige Verfahren. Die Beschwerde bietet daher dem Beschwerdeführer keine Möglichkeit, eine andere Antwort auf denselben Einwand auszuprobieren, insbesondere nicht durch das Einreichen geänderter Hilfsanträge, die zu keiner Zeit Gegenstand des Einspruchsverfahrens waren (T 1441/21).
Dieser Grundsatz, der eng mit der Frage zusammenhängt, ob das betreffende Vorbringen früher vorzutragen gewesen wäre (s. z. B. T 1456/20), wird von den Kammern bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2020 ebenfalls berücksichtigt, wie nachstehend dargelegt.
(i) Im Beschwerdeverfahren erstmals eingeführter, völlig neuer Vortrag
In J 3/20 erklärte die Juristische Beschwerdekammer, die erstmalige Einführung eines völlig neuen Vortrags im Beschwerdeverfahren sei gleichbedeutend damit, die Beschwerde als neues, unabhängiges Verfahren zu behandeln statt als auf den im erstinstanzlichen Verfahren vorgebrachten Tatsachen beruhendes gerichtliches Überprüfungsverfahren. Der Beschwerdeführer hatte erstmals in der Beschwerdebegründung beantragt, seine Zurücknahme der Benennung Großbritanniens zu berichtigen, und diesen Antrag stützende Tatsachen vorgelegt. Dieses Vorbringen hätte zudem komplexe Rechts- und Sachfragen aufgeworfen, die in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt worden waren, und somit gegen das Gebot der Verfahrensökonomie verstoßen. Deshalb ließ die Kammer dieses Vorbringen in Ausübung ihres Ermessens nicht zum Beschwerdeverfahren zu. Siehe auch T 2061/19.
(ii) Bewusster Verzicht auf die Prüfung eines Gegenstands
Die Wiedereinführung eines Gegenstands, auf dessen Überprüfung in erster Instanz bewusst verzichtet wurde, widerspricht dem in Art. 12 (2) VOBK 2020 normierten Zweck des Beschwerdeverfahrens als Überprüfungsinstanz. Entsprechende Anträge sind daher in der Regel nach Art. 12 (6) Satz 2 erster Halbsatz VOBK 2020 nicht zuzulassen (T 1456/20).
In T 1456/20 kam die Kammer zu dem Schluss, dass Hilfsantrag 7 (der einem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag entsprach) bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung vorzubringen gewesen wäre. Der Neuheitseinwand, auf dessen Überwindung die Änderung in Hilfsantrag 7 abzielte, war bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung behandelt worden. Der Patentinhaber hatte sich aber damals entschieden, den beanspruchten Gegenstand in eine bestimmte Richtung zu beschränken und damit bewusst auf die Prüfung eines Gegenstands, der in Hilfsantrag 7 wieder eingeführt wurde, verzichtet. Die Kammer war nicht überzeugt vom Argument des Patentinhabers, dass das Bestreben, die Anzahl der Anträge im Einspruchsverfahren zu begrenzen, dieses Vorgehen rechtfertigen konnte. Die Tatsache, dass es sich bei den zusätzlichen Merkmalen um Merkmale erteilter Ansprüche handelte, war nach Ansicht der Kammer irrelevant.
In der Ex-parte-Sache T 1120/20 reichte der Beschwerdeführer (Anmelder) mit seiner Beschwerdebegründung neue Anträge ein, seiner Aussage nach als Reaktion auf von der Prüfungsabteilung erhobene Klarheitseinwände. Diese Einwände waren jedoch bereits in mehreren Mitteilungen sowie in der Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung thematisiert worden, und der Anmelder hatte nicht durch entsprechende Anträge darauf reagiert, sondern sich dafür entschieden, ihre Behandlung bis zum Beschwerdeverfahren aufzuschieben.
(iii) Keine aktive Aufrechterhaltung eines Einwands in der mündlichen Verhandlung
In T 526/21 hatte der Beschwerdeführer 1 (Einsprechender 1) im Einspruchsverfahren als Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Abteilung schriftlich mangelnde erfinderische Tätigkeit ausgehend von D24 und D34 geltend gemacht, hatte diese Einwände aber in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht aktiv aufrechterhalten. Laut der Niederschrift waren die drei Einsprechenden übereinstimmend der Auffassung, dass D9 der nächstliegende Stand der Technik sei, während der Patentinhaber argumentiert hatte, dass ein Beispiel aus D2 ein besserer nächstliegender Stand der Technik wäre. Die Wahl zwischen D9 und D2 war Gegenstand der Debatte, weitere Dokumente wurden jedoch nicht in Betracht gezogen. Auch in der Entscheidung waren die auf D24 und D34 basierenden Einwände nicht erwähnt. Die Kammer entschied, dass diese Einwände nach Art. 12 (2) VOBK 2020 nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind, und ließ sie daher in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2020 nicht zum Beschwerdeverfahren zu, da der Beschwerdeführer 1, indem er sie implizit hatte fallen lassen, eine darauf beruhende Entscheidung verhindert hatte. Nach Auffassung der Kammer, hätte eine Wiedereinführung dieser Einwände in das Verfahren gegen den Zweck des Beschwerdeverfahrens und gegen das Gebot der Verfahrensökonomie verstoßen.
(iv) Erfordernis einer unverzüglichen Reaktion auf überraschende Entwicklungen
In T 655/20 stellte die Kammer fest, dass der Einsprechende sofort auf eine vermeintlich überraschende Entwicklung im Verfahren hätte reagieren müssen, die ihn in eine angeblich unerwartete und benachteiligte Situation brachte. Dann hätte die Einspruchsabteilung sich mit der Frage befassen und über einen etwaigen Antrag des Einsprechenden entscheiden können, dessen Einreichung dieser möglicherweise für angebracht gehalten hätte. Der Einsprechende hatte jedoch in der mündlichen Verhandlung keine weiteren Maßnahmen beantragt. In der Beschwerdebegründung erstmals auf einen Meinungswechsel der Einspruchsabteilung bei der Auslegung eines Merkmals zu reagieren – in diesem Fall durch Einreichung zweier neuer Dokumente und eines darauf gestützten Einwands –, widerspricht jedoch dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens (Art. 12 (2) VOBK 2020) und dem Gebot der Verfahrensökonomie (Art. 12 (4) VOBK 2020).
(v) Fälle, in denen das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens erfüllt war
In T 1963/20 erinnerte die Kammer daran, dass das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens darin besteht, die Entscheidung der ersten Instanz auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und nicht die Prüfung mit anderen Mitteln fortzusetzen (G 10/93, ABl. 1995, 172; T 980/08; T 65/11). Während die Kammer den Hauptantrag und die Hilfsanträge 2 bis 6, die mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden waren, nicht zum Beschwerdeverfahren zuließ, weil nicht ersichtlich war, warum die Änderungen nicht bereits im Prüfungsverfahren hätten eingereicht werden können, ließ sie den Antrag 7 zu, der sich ausschließlich auf die Merkmale von Anspruch 9 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Antrags bezog. Die Beschränkung auf diesen Anspruch stand im Einklang mit dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens, die Änderungen waren nicht komplex und sie eigneten sich eindeutig zur Lösung der Fragestellungen, die zu der angefochtenen Entscheidung geführt hatten.
In T 1780/20 waren die Hilfsanträge 5 und 6 identisch mit den in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung behandelten Hilfsanträgen I und II, zu denen die Prüfungsabteilung ihrer Entscheidung ein obiter dictum angefügt hatte (nachdem der Beschwerdeführer nur seinen Hauptantrag aufrechterhalten hatte). Folglich hatte der Beschwerdeführer mit diesen Hilfsanträgen , wie von der Kammer betont, keinen neuen Sachverhalt eingeführt; stattdessen unterschied sich die Situation nicht maßgeblich von der in Art. 12 (2) VOBK 2020 beschriebenen. Folglich ließ die Kammer die Hilfsanträge 5 und 6 zum Beschwerdeverfahren zu.