5.2. Unterscheidende Merkmale
In T 74/98 sah die Kammer keinen Grund, Zahlen aufzurunden, die man durch Konvertierung von ursprünglich in einer anderen Einheit ausgedrückten Werten aus dem Stand der Technik erhalten hatte. Selbstverständlich würde jedes Aufrunden im Anschluss an die Konvertierung dieser Zahlen in molare Stoffmengen sich auf die Definition der Verbindungen auswirken. Es liege auch auf der Hand, dass die tatsächliche Bedeutung einer Offenbarung nicht davon abhängen könne, in welchen Einheiten man diese ausdrücke, und dass der Einwand mangelnder Neuheit auf einer Mehrdeutigkeit gründe, die der Beschwerdeführer künstlich herbeigeführt habe.
In T 1186/05 zog die Kammer eine Unterscheidung zwischen dem vorliegenden Fall und dem Fall vor der Beschwerdekammer in T 74/98. Im letzteren Fall hielt die Kammer das Aufrunden des in Molprozent mit zwei Dezimalstellen ausgedrückten Stoffmengenanteils einer Komponente, den man durch Umrechnung seines Gewichtsanteils erhalten hatte, auf die nächste ganze Zahl (wodurch die Untergrenze des beanspruchten "erfinderischen" Bereichs erreicht wurde), für nicht gerechtfertigt, weil i) dies zu einer Ausweitung des beanspruchten Bereichs führe und ii) durch erneute Umrechnung des aufgerundeten Stoffmengenanteils auf den entsprechenden Gewichtsanteil auch dieser Gewichtsanteil und damit die tatsächliche Bedeutung dieser spezifischen Offenbarung verändert würde. Außerdem wies die Kammer in T 1186/05 darauf hin, dass ein Aufrunden erforderlich war, um zwei Dichtewerte miteinander vergleichen zu können, von denen zwar jeder einem "tatsächlichen" Dichtewert mit drei (oder mehr) Dezimalstellen entsprach, die aber unterschiedlich genau ausgedrückt waren, da der eine drei und der andere nur zwei Dezimalstellen aufwies. Durch das Aufrunden wurden der beanspruchte Dichtewert und der Dichtewert aus dem Stand der Technik in Anwendung der hierfür geltenden mathematischen Regel einander angeglichen. Auf die im Dokument aus dem Stand der Technik offenbarten Dichtewerte wirkte sich das Aufrunden nicht aus (s. auch T 708/05).
In der Entscheidung T 234/09 stellte die Kammer fest, dass die anspruchsgemäße Zusammensetzung der Fasern durch Zahlenbereiche für die jeweiligen Gewichtsprozentanteile der Bestandteile definiert war. Die Patentinhaberin hatte die Ober- und Untergrenze der betreffenden Bereiche meist in ganzen Zahlen ausgedrückt. Nach Auffassung der Kammer würde der Fachmann im Kontext des betreffenden Patents begreifen, dass die ganzen Zahlen zur Abgrenzung der Bereiche in Anspruch 1 nicht als ganze Zahlen im mathematischen Sinne zu verstehen waren, sondern vielmehr als Grenzwerte, die bewusst weniger genau als die im Patent genannten Dezimalzahlen ausgedrückt worden waren. Daher deckten diese ganzen Zahlen auch Dezimalwerte ab, die man durch Anwendung der Rundungsregeln auf die ganzen Zahlen erhielt. In vergleichbaren Fällen seien die Kammern bereits analog vorgegangen, s. z. B. T 1186/05. Anders als im vorliegenden Fall betrafen zwei der von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidungen Fälle, in denen es keinen besonderen Grund gab, einen im Stand der Technik nur implizit offenbarten Wert zu runden (vgl. T 74/98, T 646/05). Die Kammer gelangte daher zu der Auffassung, dass der zur Ermöglichung eines Vergleichs gerundete Prozentsatz sich nicht von der in Anspruch 1 genannten Obergrenze unterschied. Der Gegenstand von Anspruch 1 war folglich nicht neu.
In T 871/08 vom 8. Dezember 2011 date: 2011-12-08 bezog sich das Dokument des Stands der Technik D9 auf ein Verfahren zur Herstellung von Wasserstoffperoxid nach dem Anthrachinonverfahren. Der Beschwerdegegner hatte geltend gemacht, der beanspruchte Gegenstand sei neu, weil der Wert 2.996 unterhalb der im betreffenden Anspruch 1 festgesetzten Untergrenze von 3:1 liege. Die Kammer wies diese Argumentation zurück. Beim Vergleich eines Werts aus dem Stand der Technik (hier der Wert "2.996") – mit den beanspruchten Werten (hier der Bereich "von 3:1 bis 9:1") müsse der Wert aus dem Stand der Technik mit der gleichen Genauigkeit ausgedrückt werden wie die beanspruchten Werte. Im vorliegenden Fall waren die anspruchsgemäßen Werte ohne Kommastellen angegeben worden, was bedeutete, dass der Wert 2.996 für Vergleichszwecke auf 3 aufgerundet werden musste, womit er in den beanspruchten Bereich fiel (s. insbesondere T 1186/05, T 708/05).
In T 686/96 betraf Anspruch 1 ein Gemisch mit einem Merkmal iv, das einen Perspex®-Abriebwert im Bereich von etwa 12 bis etwa 20 voraussetzte. Eine Vorveröffentlichung offenbarte in Beispiel 2 ein Gemisch mit den Merkmalen i bis iii des Anspruchs 1. Zur Klärung der Neuheit musste festgestellt werden, ob das bekannte Gemisch ebenfalls den in Merkmal iv des Anspruchs 1 geforderten Abriebwert aufwies. Die Kammer stellte fest, dass der Abriebwert des bekannten Gemischs etwas unter dem im anspruchsgemäßen Merkmal iv angegebenen unteren Wert lag. Da die Untergrenze in Anspruch 1 mit "etwa 12" angegeben war, war eine Auslegung erforderlich. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass bei der Beurteilung der Neuheit eines Anspruchsgegenstands die weiteste technisch sinnvolle Auslegung des Anspruchs herangezogen werden müsse. Der Umfang des Anspruchs 1 sei dahin gehend auszulegen, dass die dort angegebene Untergrenze dem im Stand der Technik offenbarten Wert entspreche. Anspruch 1 sei daher die Neuheit abzusprechen. Im Gegensatz dazu war in T 2437/13 (Nukleinsäuresequenzen) der Grad der Sequenzidentität laut Anspruch 1 der prozentuale Anteil der identischen Nukleotide einer Abfragenukleotidsequenz, die paarweise mit einer Zielnukleotidsequenz aligniert war, an der Gesamtzahl von alignierten Basen. Beide Werte waren ganze Zahlen, die mit absoluter Präzision gezählt werden konnten. Zwei Basen stimmten entweder überein oder nicht. Bei der Feststellung einer Übereinstimmung von zwei Basen war kein Irrtum möglich. Die Zählung der Übereinstimmungen konnte wiederholt werden und hätte jedes Mal zu genau demselben Ergebnis geführt. Es gab keinen Mess- oder Schätzfehler und keine Fehlerfortpflanzung bei der berechneten prozentualen Sequenzidentität und damit keinen Grund, den berechneten Wert bei der Berechnung des Grads der Sequenzidentität aufzurunden.