6. Vertrauensschutz und Rechtsprechung
In J 27/94 (ABl. 1995, 831) stellte die Kammer fest, dass es Fälle geben kann, in denen die Öffentlichkeit zu Recht darauf vertraut, dass die erste Instanz nicht von der ständigen Rechtsprechung abweichen wird. Dies gelte etwa dann, wenn die betreffende Rechtsprechung Bestandteil der ständigen Rechtspraxis der ersten Instanz geworden sei, insbesondere, wenn dies der Öffentlichkeit durch die Publikation von Richtlinien, Rechtsauskünften oder Mitteilungen des EPA zur Kenntnis gebracht worden sei. In einer solchen Situation könne der Anmelder zu Recht erwarten, dass eine Rechtspraxis, die eine bestimmte Verfahrensweise zulasse oder sogar empfehle, nicht ohne Vorankündigung geändert werde. In der vorliegenden Sache befand die Kammer wie folgt: Solange die Stellungnahme G 10/92 (ABl. 1994, 633) der Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen war, habe die erste Instanz daher nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes, gestützt auf die Entscheidung J 11/91 (ABl. 1994, 28), die Einreichung einer Teilanmeldung zulassen müssen, nachdem bereits das Einverständnis mit der zur Erteilung vorgesehenen Fassung vorgelegen habe.
In J 25/95 unterstrich die Kammer, dass die Veröffentlichung der Entscheidung J 11/91 im Amtsblatt des EPA (ABl. 1994, 28) sowie in der Publikation "Rechtsprechung der Beschwerdekammern" nicht zu der Erwartung berechtigt habe, dass eine Teilanmeldung noch bis zum Zeitpunkt des Erteilungsbeschlusses eingereicht werden könne. Wenn irgendein Zweifel bestanden habe, ob sich in dieser Frage eine feste Praxis herausgebildet habe, hätte sich der Beschwerdeführer durch eine Anfrage beim EPA Klarheit verschaffen müssen und in diesem Fall rasch erfahren, dass die erste Instanz die Entscheidung J 11/91 nicht anwandte.
In T 740/98 brachte der Beschwerdeführer vor, dass der Disclaimer von der Prüfungsabteilung gemäß den Prüfungsrichtlinien (Fassung 1994) und der damaligen Rechtsprechung der Beschwerdekammern zugelassen worden sei. Die später in der Entscheidung G 1/03 (ABl. 2004, 413) aufgestellten Grundsätze könnten somit keine Anwendung finden, weil dies gegen den Grundsatz des guten Glaubens und den des Vertrauensschutzes gegenüber den Kunden des EPA verstoße. Die Kammer verwies darauf, dass nach dem Rechtssystem des EPÜ weder die Richtlinien noch die ständige Rechtsprechung bindend seien. Daher könne der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht auf eine frühere Ausgabe der Richtlinien oder die frühere Rechtsprechung gestützt werden. Die Kammer entschied, dass die in G 1/03 aufgestellten Grundsätze auf den vorliegenden Fall anwendbar seien. In T 500/00 fügte die Kammer hinzu, dass nicht maßgeblich sei, ob die Einspruchsabteilung entsprechend den Richtlinien, sondern, ob sie gemäß dem EPÜ gehandelt habe. Der Grundsatz des guten Glaubens könne nicht gegen die Anwendung von in G 1/03 aufgestellten Grundsätzen über die Gewährbarkeit von Disclaimern auf anhängige Verfahren geltend gemacht werden.