5.5. Berichtigungen nach Regel 139 EPÜ
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Die nachstehenden Entscheidungen betreffen überwiegend die Anwendung von R. 88 EPÜ 1973. Inhaltlich wurde R. 139 EPÜ jedoch gegenüber der früheren R. 88 EPÜ 1973 nicht geändert; in allen drei Sprachfassungen wurden lediglich kleinere redaktionelle Änderungen vorgenommen.
In G 2/95 (ABl. 1996, 555) befand die Große Beschwerdekammer, dass die vollständigen Unterlagen einer europäischen Patentanmeldung, also Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen, nicht im Wege der Berichtigung nach R. 88 EPÜ 1973 durch andere Unterlagen ersetzt werden können, die der Anmelder mit seinem Erteilungsantrag hatte einreichen wollen (in Abkehr von T 726/93, ABl. 1995, 478). Die Auslegung von R. 88 EPÜ 1973 muss deshalb mit Art. 123 (2) EPÜ 1973 in Einklang stehen. Das bedeutet, dass eine Berichtigung nach R. 88 EPÜ 1973 der Schranke des Art. 123 (2) EPÜ 1973 unterliegt, soweit sie den Inhalt einer europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung betrifft (s. G 3/89, ABl. 1993, 117). Eine solche Berichtigung darf folglich nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit der den Inhalt der europäischen Patentanmeldung bildenden Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (s. G 3/89).
Den Inhalt der europäischen Patentanmeldung bilden dabei die Teile der Anmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind, nämlich die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen (s. G 3/89). Andere Unterlagen als Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen können infolge des Erweiterungsverbots nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 nur insoweit herangezogen werden, als sie geeignet sind, das am Anmeldetag bestehende allgemeine Fachwissen zu belegen (s. G 3/89). Dagegen dürfen Unterlagen, die dieser Anforderung nicht genügen, selbst dann nicht zu einer Berichtigung herangezogen werden, wenn sie zusammen mit der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden sind. Zu Letzteren gehören insbesondere auch Prioritätsdokumente, die Zusammenfassung und dergleichen (s. G 3/89). S. auch J 5/06.
In der dieses Beschwerdeverfahren abschließenden Entscheidung J 21/94 vom 20. Januar 1997 date: 1997-01-20, die nach der in G 2/95 (ABl. 1996, 555) behandelten Vorlage an die Große Beschwerdekammer erging, kam die Juristische Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass für die ursprünglich offenbarte Erfindung B auch dann ein Anmeldetag begründet werden kann, wenn Widersprüche zwischen Erteilungsantrag (der sich auf die Erfindung A bezog) und Anmeldungsunterlagen (welche B offenbarten) bestehen. Wird im Lauf des Erteilungsverfahrens eine weitere Erfindung (in diesem Fall die Erfindung A) offenbart, so wird für diese kein Anmeldetag begründet, wenn nicht ersichtlich ist, dass nun für diese Erfindung Schutz begehrt wird.
In J 5/06 erklärte die Juristische Beschwerdekammer unter Verweis auf J 21/94 date: 1997-01-20, dass nach der Zuerkennung des Anmeldetags gemäß Art. 80 EPÜ 1973 der technische Inhalt einer Anmeldung definitiv feststeht (G 2/95). Wenn dieser technische Inhalt durch einen anderen ersetzt wird, handelt es sich um eine technische Änderung. Die strengen Kriterien von Art. 123 (2) EPÜ 1973 bzw. R. 88 Satz 2 EPÜ 1973 sind nicht nur auf Umstände anzuwenden, in denen ein kleiner Teil einer vollständigen Beschreibung relativ zum übrigen Teil ausgelegt werden muss, sondern auf jede vorgeschlagene Änderung oder Berichtigung. Das heißt, der technische Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung kann nicht einfach ignoriert werden, selbst wenn er nicht der Absicht des Anmelders entspricht, sondern muss bei der Entscheidung über die Zulässigkeit einer Änderung oder Berichtigung berücksichtigt werden. Die Absicht des Anmelders zum Zeitpunkt der Anmeldung (oder auch später) ist unerheblich für die Bestimmung des technischen Inhalts einer Patentanmeldung.
In J 16/13 beantragte der Beschwerdeführer die Berichtigung der fälschlich eingereichten Beschreibung und Ansprüche nach R. 139 EPÜ. Die Juristische Beschwerdekammer stellte fest, dass der Fachmann die Abweichungen zwischen den Zeichnungen und den übrigen Teilen der Beschreibung auf Anhieb erkannt hätte. Es sei jedoch nicht "sofort erkennbar, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird". Es fehle also die nach R. 139 EPÜ erforderliche feste Überzeugung von der einzig möglichen Berichtigung. Die Juristische Beschwerdekammer stellte fest, dass der vorliegende Fall Ähnlichkeiten mit J 5/06 aufwies. Darin wurde bestätigt, dass die frühere Rechtsprechung, wonach die Absicht des Anmelders bei der Anwendung von R. 88 EPÜ 1973 zu berücksichtigen ist (so noch T 726/93), durch die nunmehr herrschende Rechtsprechung (G 2/95, G 2/95, J 21/94 date: 1997-01-20, G 3/89) eindeutig überholt sei. Der Antrag auf Berichtigung der Patentschrift nach R. 139 EPÜ wurde abgelehnt. Siehe auch T 158/21.
In J 3/21 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass das Verbot von auf die Ersetzung der Beschreibung abzielenden Berichtigungen, das in G 2/95 auf der Grundlage von Art. 123 (2) EPÜ eingeführt und beispielsweise in J 5/06 und J 16/13 weiterentwickelt wurde, kategorisch sei und aus dem in R. 40 (1) c) EPÜ widergespiegelten Grundsatz folge, wonach der zuerkannte Anmeldetag mit der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung untrennbar verbunden ist. Ein Austausch der Beschreibung im Wege der Berichtigung würde unmittelbar die Trennung von Anmeldetag und Beschreibung bewirken, was nach Art. 123 (2) EPÜ unzulässig sei. Dieser Grundsatz gelte unabhängig von der Absicht des Anmelders.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”