BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 14. Mai 1996 - G 2/95
(Amtlicher Text)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Gori |
Mitglieder: | W. Moser |
C. Andries | |
G. Gall | |
G. D. Paterson | |
J.-C. Saisset | |
P. van den Berg |
Anmelder: ATOTECH Deutschland GmbH
Stichwort: Austausch der Anmeldungsunterlagen/ATOTECH
Artikel: 14 (1), (2), 80 d), 87 (2), 100 c), 123 (2), 138 (1) c), 164 (2) EPÜ
Artikel: 4A (2) PVÜ
Regel: 88 EPÜ
Regel: 91.1 c) PCT
Schlagwort: "Ersatz der vollständigen Anmeldungsunterlagen durch andere Unterlagen im Wege einer Berichtigung nach Regel 88 EPÜ (nein)"
Leitsatz:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage ist wie folgt zu beantworten:
Die vollständigen Unterlagen einer europäischen Patentanmeldung, also Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen, können nicht im Wege der Berichtigung nach Regel 88 EPÜ durch andere Unterlagen ersetzt werden, die der Anmelder mit seinem Erteilungsantrag hatte einreichen wollen.
Sachverhalt und Anträge
I. In der Beschwerdesache J 21/85 (ABl. EPA 1986, 117) beantragte der Beschwerdeführer, im Rahmen einer Berichtigung nach Regel 88 EPÜ neue Anmeldungsunterlagen gegen die ursprünglich eingereichten, mit dem Antrag auf Patenterteilung in Einklang stehenden Unterlagen einer europäischen Patentanmeldung auszutauschen. Die Beschwerde wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß Regel 88 EPÜ es nicht erlaube, die Erfindung, auf die sich ein Antrag auf Patenterteilung beziehe, auszutauschen. Der Erteilungsantrag sei seinem Wesen nach das Ersuchen auf Erteilung eines europäischen Patents für eine ganz bestimmte Erfindung. Ein Austausch der beschriebenen Erfindung als Ganzes sei daher nichts anderes als Rücknahme eines Erteilungsantrags und Neueinreichung eines anderen Erteilungsantrags. Dem Ersuchen, nunmehr ein europäisches Patent für einen anderen Gegenstand zu erteilen, könne deshalb nicht mehr der ursprüngliche Anmeldetag zukommen.
II. In der Beschwerdesache T 726/93 (ABl. EPA 1995, 478) beantragte der Beschwerdeführer, eine Berichtigung gemäß Regel 88 EPÜ in der Form zu gewähren, daß die Beschreibung und die Patentansprüche des Prioritätsbelegs für die eingereichte europäische Patentanmeldung maßgebend sind. Der Beschwerdeführer hatte eine Beschreibung und Patentansprüche eingereicht, die mit dem Antrag auf Patenterteilung nicht in Einklang standen. Des weiteren entsprachen die eingereichten Zeichnungen nicht der Beschreibung, sondern den Zeichnungen des Prioritätsbelegs, der zusammen mit den Anmeldungsunterlagen eingereicht worden war. Dagegen standen die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen des Prioritätsbelegs mit dem Antrag auf Patenterteilung in Einklang. Die zuständige Beschwerdekammer gab dem Berichtigungsantrag mit der Begründung statt, daß bei Betrachtung der gesamten Unterlagen der europäischen Patentanmeldung sofort erkennbar gewesen sei, daß nichts anderes habe beabsichtigt sein können als das, was als Berichtigung vorgeschlagen worden sei.
III. Der Beschwerdesache J 21/94 (ABl. EPA 1996, 16) liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die von der Beschwerdeführerin eingereichten Anmeldungsunterlagen (Beschreibung, Patentansprüche, Zeichnungen) stehen mit dem Antrag auf Patenterteilung nicht in Einklang. Dagegen entspricht der Prioritätsbeleg, der nach dem Anmeldetag eingereicht wurde, den Angaben im Erteilungsantrag. Danach reichte die Beschwerdeführerin überdies Anmeldungsunterlagen ein, die den Angaben im Erteilungsantrag entsprechen. Die Beschwerdeführerin beantragte, die ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen im Wege der Berichtigung nach Regel 88 EPÜ, unter Zuerkennung des ursprünglichen Anmeldetags, durch die nachträglich eingereichten Anmeldungsunterlagen zu ersetzen.
Angesichts der zwischen den Entscheidungen J 21/85 (oben Abschnitt I) und T 726/93 (oben Abschnitt II) bestehenden Divergenz hat die Juristische Beschwerdekammer mit Zwischenentscheidung J 21/94 vom 12. April 1995 der Großen Beschwerdekammer die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"Können im Wege der Berichtigung nach Regel 88 EPÜ die vollständigen Unterlagen einer europäischen Patentanmeldung, also Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen, durch andere Unterlagen ersetzt werden, die der Anmelder mit seinem Erteilungsantrag hatte einreichen wollen?"
Zur Begründung der Vorlage führte die Juristische Beschwerdekammer unter anderem folgendes aus:
- Die Frage, welche Unterlagen für die ursprüngliche Offenbarung der Erfindung herangezogen werden könnten, sei nicht nur für das Schicksal der zu berichtigenden Anmeldung von ausschlaggebender Bedeutung. Sie könne darüber hinaus auch die Patentierbarkeit kollidierender Anmeldungen entscheidend beeinflussen, da für diese der Inhalt der zu berichtigenden Anmeldung mit Rückwirkung auf den Anmeldetag zum Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ werde.
- Bei der Beantwortung der Frage müßten die Wertungen der Großen Beschwerdekammer in den Fällen G 3/89 und G 11/91 (ABl. EPA 1993, 117 und 125) zur Auslegung von Artikel 123 (2) und Regel 88, Satz 2 EPÜ und zum Verhältnis dieser Bestimmungen einbezogen werden. Da gemäß dieser Rechtsprechung schon eine Ergänzung der Offenbarung nicht zulässig sei, so griffen Einwände gegen eine Änderung um so mehr, wenn die Offenbarung nicht nur partiell, sondern in toto geändert werden soll.
- Eine Berichtigung müsse immer ausgeschlossen sein, wenn sie zu einer nachträglichen Erweiterung des Inhalts im Vergleich zur Offenbarung am Anmeldetag führen würde.
- Die Rechtsprechung zur Berichtigung von mangelhaften Benennungen eines Vertragsstaats gehe davon aus, daß die Berichtigung einer Benennung die Offenbarung der Erfindung nach Artikel 83 EPÜ unberührt lasse. Bei dieser Rechtsprechung handele es sich um die Auslegung von prozessualen Handlungen. Solche Änderungen unterlägen daher nicht den Schranken von Regel 88 Satz 2 EPÜ, die im Einklang mit Artikel 123 (2) EPÜ eine Ergänzung der Offenbarung nach dem Anmeldetag ausschlössen.
- Es mache auch keinen Unterschied, daß ein Prioritätsbeleg am Anmeldetag vorgelegen habe oder nachgereicht worden sei, weil es die Große Beschwerdekammer ausdrücklich abgelehnt habe, den am Anmeldetag vorliegenden Prioritätsbeleg zur Stützung eines Berichtigungsantrags zuzulassen (G 3/89, a. a. O.; Punkt 7 der Gründe).
IV. Die am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer beteiligte Beschwerdeführerin reichte am 28. August 1995 eine Stellungnahme ein. Darin führte sie im wesentlichen folgendes aus:
- Der Sachverhalt, zu dem die Entscheidung J 21/85 (oben Abschnitt I) ergangen sei, ziele auch tatsächlich auf den Austausch von Antrag/Ersuchen plus beigefügten Unterlagen, so daß keinerlei Unrichtigkeit in der Gesamtheit der Unterlagen feststellbar gewesen sei, weil diese einen einheitlichen logischen Gesamtzusammenhang gebildet hätten. Demgegenüber sei sowohl der Sachverhalt zur Entscheidung T 726/93 (oben Abschnitt II) als auch zur Zwischenentscheidung J 21/94 (oben Abschnitt III) insoweit identisch gewesen, nämlich der Antrag sei korrekt gewesen und hätte auch nicht berichtigt werden sollen, lediglich die beigefügten Teile der Unterlagen, "Beschreibung, Ansprüche, Zeichnungen" hätten gegen andere Unterlagen ersetzt werden sollen, wegen ohne weiteres ersichtlicher Unrichtigkeiten. Dies sei jedoch kein Sachverhalt, der in Regel 88, Satz 2 EPÜ angesprochen sei, weil dort die ausschnittsweisen Änderungen, also die Berichtigung dieser Teile in sich geregelt sei.
- "Der Gegenstand der europäischen Patentanmeldung" sei offensichtlich derjenige, für den gemäß Artikel 84 EPÜ in den Ansprüchen Schutz begehrt werde und der von der Beschreibung gestützt werde, nämlich die dargestellte Erfindung. Das Änderungsverbot nach Artikel 123 (2) EPÜ beziehe sich auf den in den "Inhalt der Anmeldung" eingebetteten "Gegenstand". Von "Erweiterung" im engeren Sinne dürfe nur im Zusammenhang mit dem Schutzbereich eines europäischen Patents gemäß Artikel 123 (3) EPÜ gesprochen werden. Diesen Gegenstand müsse der Fachmann aus der Offenbarung am Anmeldetag erkennen, um von da aus festzustellen, ob eine unzulässige Änderung im Falle der Berichtigung nach Regel 88 Satz 2 EPÜ vorliege oder lediglich offensichtliche, objektiv erkennbare Unrichtigkeiten korrigiert werden sollten.
- In der Beschwerdesache J 21/94 (oben Abschnitt III) habe der Fachmann aus dem "Inhalt der Anmeldung" niemals auf eine objektiv erkennbare Unrichtigkeit schließen können, es sei denn, er hätte alle Teile der europäischen Patentanmeldung nach Artikel 78 (1) EPÜ zur Verfügung gehabt.
- In der Beschwerdesache J 21/94 (oben Abschnitt III) gehe es um die Auslegung einer - möglicherweise zunächst fehlerhaften - prozessualen Handlung, nämlich der Beifügung von falschen Fotokopien zu einem richtigen Antrag. Es liege somit ein Sonderfall vor, der nicht von Regel 88 Satz 2 EPÜ, nämlich der inhaltlichen Änderungen der Offenbarungsteile, erfaßt werde.
V. Der Präsident des EPA äußerte sich gemäß Artikel 11a der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer zu der vorliegenden Rechtsfrage im wesentlichen wie folgt:
- Am Anmeldetag müsse feststehen, wofür der Anmelder Schutz begehre. Erfüllten die eingereichten Unterlagen die Voraussetzungen des Artikels 80 EPÜ, so erhalte der Anmelder für diese Unterlagen einen Anmeldetag. Die eingereichten Unterlagen könnten später geändert oder berichtigt werden, wenn Unrichtigkeiten in den eingereichten Unterlagen vorlägen. Die Berichtigung dürfe jedoch niemals dazu führen, daß ein Gegenstand in die Anmeldung erstmalig eingeführt werde, der am Anmeldetag nicht offenbart gewesen sei. Über die Anwendung von Regel 88 EPÜ, einer Vorschrift in der Ausführungsordnung, könnten aber nicht die strikten Voraussetzungen von Artikel 80 EPÜ umgangen werden. Der Anwendungsbereich von Regel 88 EPÜ beginne dementsprechend erst dann, wenn in den eingereichten Unterlagen, für die ein Anmeldetag erlangt worden sei, Unrichtigkeiten korrigiert werden sollten.
- Der Austausch der vollständigen Anmeldungsunterlagen betreffe die Offenbarung in einem viel stärkeren Maße als die Berichtigung von nur einzelnen Teilen dieser Unterlagen. Da schon einzelne Teile der Anmeldung nur im Rahmen der ursprünglichen Offenbarung berichtigt werden könnten, so könne auf keinen Fall der gesamte Offenbarungsgehalt der Anmeldung ausgetauscht werden.
- Bei der Benennung von Vertragsstaaten gehe es um die territoriale Wirkung einer Hinterlegung, während es bei der Frage des Austauschs der Anmeldungsunterlagen um die Frage der ursprünglichen Offenbarung gehe.
- Der Gesetzgeber habe bei der Ausarbeitung des EPÜ ganz bewußt unterschiedliche Voraussetzungen für die Berichtigung unterschiedlicher Unrichtigkeiten der Anmeldungsunterlagen aufgestellt. Die Berichtigung von Teilen der Anmeldung, in denen die Offenbarung der Erfindung enthalten sei, habe ganz bewußt nur unter eingeschränkten Voraussetzungen möglich sein sollen.
- Die Klärung der Frage, ob die Anmeldungsunterlagen gemäß Regel 88 EPÜ ausgetauscht werden könnten, sei nicht nur für das Prüfungsverfahren von erheblicher praktischer Bedeutung. Diese Frage betreffe zugleich die ursprüngliche Offenbarung, d. h. die am Anmeldetag vorhandene Offenbarung, und könne somit gemäß Artikel 100 c) EPÜ auch im Einspruchsverfahren von Bedeutung werden. Gemäß Artikel 138 (1) c) EPÜ sei die unzulässige Erweiterung darüber hinaus ein Nichtigkeitsgrund.
- Die Zulassung der Berichtigung über die am Anmeldetag in den Anmeldungsunterlagen tatsächlich vorhandene Offenbarung hinaus könne eine vergleichbare Rechtsunsicherheit wie bei Artikel 138 (1) c) EPÜ auch für das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität einer europäischen Patentanmeldung schaffen. Artikel 4 A (2) PVÜ erkenne die prioritätsbegründende Wirkung jeder Hinterlegung zu, der nach den innerstaatlichen Vorschriften jedes Verbandslandes oder nach zwei- oder mehrseitigen Verträgen die Bedeutung einer vorschriftsgemäßen nationalen Hinterlegung zukomme. Es sei aber nichts dafür ersichtlich, daß vom Land der Nachanmeldung als Tag der Hinterlegung auch ein Tag anerkannt werden müsse, an dem tatsächlich keine Hinterlegung stattgefunden habe. Die Berichtigung in Form des Austauschs der Anmeldungsunterlagen sei tatsächlich die erste Hinterlegung in der berichtigten Form.
- Selbst wenn man davon ausgehen würde, daß die Berichtigung rückwirkenden Charakter habe, dürfe nicht übersehen werden, daß diese Rückwirkung nur eine Fiktion sei und daß die Unterlagen am Anmeldetag tatsächlich nicht zur Verfügung standen. Dementsprechend könne ein Verbandsland zu dem Ergebnis kommen, daß auf der Grundlage der "ausgetauschten Unterlagen" ein Prioritätsrecht nicht bzw. nicht mit dem ursprünglichen Anmeldedatum bestehe. Entsprechendes gelte für die Auslegung von Artikel 87 (2) EPÜ durch die nationalen Nichtigkeitsinstanzen.
- Regel 91.1 c) PCT schreibe vor, daß beim Fehlen von ganzen Bestandteilen oder Seiten der internationalen Anmeldung eine Berichtigung auch dann nicht zulässig sei, wenn das Fehlen eindeutig auf eine Unachtsamkeit, etwa bei der Vervielfältigung oder beim Einordnen von Blättern, zurückzuführen sei.
Entscheidungsgründe
1. Artikel 123 (2) EPÜ legt zwingend fest, daß Änderungen einer europäischen Patentanmeldung nur insoweit zulässig sind, als der Gegenstand der geänderten europäischen Patentanmeldung nicht über den Inhalt der europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Die Zulassung einer Berichtigung nach Regel 88 Satz 2 EPÜ, die zu einer nachträglichen Erweiterung des Inhalts der europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung führt, würde demnach bedeuten, daß eine Vorschrift des Übereinkommens, Artikel 123 (2) EPÜ, und eine Vorschrift der Ausführungsordnung, Regel 88 Satz 2 EPÜ, in bezug auf ein und denselben Sachverhalt, nämlich die Erweiterung der ursprünglichen Offenbarung einer Erfindung, Rechtsfolgen anordnen, die sich gegenseitig ausschließen. Nach Artikel 164 (2) EPÜ ginge in einem solchen Fall die Vorschrift des Übereinkommens, also Artikel 123 (2) EPÜ, vor.
2. Die Auslegung von Regel 88 Satz 2 EPÜ muß deshalb mit Artikel 123 (2) EPÜ in Einklang stehen. Das bedeutet, daß eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ der Schranke des Artikels 123 (2) EPÜ (oben Punkt 1) unterliegt, soweit sie den Inhalt einer europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung betrifft (G 3/89, a. a. O.; Punkt 1.3 der Gründe). Eine solche Berichtigung darf folglich nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit der den Inhalt der europäischen Patentanmeldung bildenden Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 3/89, a. a. O.; Punkt 3 der Gründe). Den Inhalt der europäischen Patentanmeldung bilden dabei die Teile der Anmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind, nämlich die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen (G 3/89, a. a. O.; Punkt 1.4 der Gründe). Andere Unterlagen als Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen können infolge des Erweiterungsverbots nach Artikel 123 (2) EPÜ nur insoweit herangezogen werden, als sie geeignet sind, das am Anmeldetag bestehende allgemeine Fachwissen zu belegen (G 3/89, a. a. O.; Punkt 7 der Gründe). Dagegen dürfen Unterlagen, die dieser Anforderung nicht genügen, selbst dann nicht zu einer Berichtigung herangezogen werden, wenn sie zusammen mit der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden sind. Zu letzteren gehören insbesondere auch Prioritätsdokumente, die Zusammenfassung und dergleichen (G 3/89, a. a. O.; Punkt 7 der Gründe).
Da ein Verstoß gegen das Erweiterungsverbot nach Artikel 123 (2) EPÜ sowohl einen Einspruchsgrund (Artikel 100 c) EPÜ) als auch einen Nichtigkeitsgrund (Artikel 138 (1) c) EPÜ) darstellt, trägt diese Auslegung von Regel 88 Satz 2 EPÜ dazu bei, die Rechtsbeständigkeit eines erteilten europäischen Patents zu gewährleisten (siehe G 3/89, a. a. O.; Punkt 1.6 der Gründe).
3. Artikel 80 EPÜ normiert die Mindesterfordernisse für die Zuerkennung eines Anmeldetags. Nach Artikel 80 d) EPÜ müssen die vom Anmelder eingereichten Unterlagen eine Beschreibung und einen oder mehrere Patentansprüche in einer der Amtssprachen des EPA (Artikel 14 (1) EPÜ) oder in einer Amtssprache eines Vertragsstaats (Artikel 14 (2) EPÜ) enthalten; es ist nach dieser Vorschrift aber nicht erforderlich, daß die Beschreibung und die Patentansprüche den übrigen Vorschriften des EPÜ entsprechen. Es genügt daher, wenn Anmeldungsunterlagen vorliegen, die offenbar eine Beschreibung und einen oder mehrere Patentansprüche umfassen. Enthalten die Anmeldungsunterlagen aber keine Beschreibung oder keine Patentansprüche, so sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Anmeldetags nach Artikel 80 d) EPÜ nicht erfüllt und können auch nicht nachträglich im Wege einer Berichtigung nach Regel 88 Satz 2 EPÜ geschaffen werden.
4. Entsprechen die Anmeldungsunterlagen den Erfordernissen gemäß Artikel 80 EPÜ, so kommt der europäischen Patentanmeldung ein Anmeldetag zu. Mit der Beschreibung, den Patentansprüchen und, gegebenenfalls, den Zeichnungen der Anmeldungsunterlagen ist der Inhalt der europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (Artikel 123 (2) EPÜ) festgelegt. Eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ, die den Inhalt der europäischen Patentanmeldung betrifft, kann nur im oben (unter Punkt 2) definierten Rahmen erfolgen. Die Teile der europäischen Patentanmeldung, die für die Offenbarung der Erfindung maßgebend sind, können daher nicht im Wege einer Berichtigung nach Regel 88, Satz 2 EPÜ durch andere Unterlagen ersetzt werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage ist wie folgt zu beantworten:
Die vollständigen Unterlagen einer europäischen Patentanmeldung, also Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen, können nicht im Wege der Berichtigung nach Regel 88 EPÜ durch andere Unterlagen ersetzt werden, die der Anmelder mit seinem Erteilungsantrag hatte einreichen wollen.