1.7.2 Standards für die Prüfung offenbarter und nicht offenbarter Disclaimer
Die Große Beschwerdekammer hat in G 2/10 darauf hingewiesen, dass im Anschluss an die Entscheidung G 1/03 (und G 2/03) in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten worden sind, ob sich die Entscheidung G 1/03 auch auf Disclaimer bezieht, mit denen Ausführungsformen ausgeklammert werden, die in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Teil der Erfindung offenbart sind, oder ob in einem solchen Fall die bisherige Rechtsprechung in Anlehnung an die Entscheidung T 4/80 (ABl. 1982, 149) weiterhin zur Anwendung kommt (s. G 1/07, ABl. 2011, 134, Nr. 4.2.3 der Gründe). In G 2/10 formulierte die Große Beschwerdekammer die ihr vorgelegte Frage um und legte sie so aus, dass sie darauf gerichtet sei, ob die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines Disclaimers gegen Art. 123 (2) EPÜ verstößt, wenn der Gegenstand des Disclaimers in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Ausführungsform der Erfindung offenbart war.
In G 2/10 betonte die Große Beschwerdekammer, dass die Entscheidung G 1/03 die in T 1050/99 gezogene Schlussfolgerung nicht stütze, dass sich G 1/03 auch auf Disclaimer für offenbarte Gegenstände beziehe. Außerdem sei in G 1/03 nicht festgestellt worden, dass ein nicht offenbarter Disclaimer nach Art. 123 (2) EPÜ immer zulässig sei. Der von ihr in ihrer Antwort gewählte Wortlaut "ein Disclaimer kann zulässig sein" deute darauf hin, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/03 mit den in ihrer Antwort festgelegten Kriterien nicht erschöpfend definieren wollte, wann ein Disclaimer gegen Art. 123 (2) EPÜ verstößt und wann nicht.
Somit sei festzuhalten, dass weder in der Entscheidung G 1/93 noch in der Entscheidung G 1/03 beabsichtigt wurde, die allgemeine Definition der Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ zu ändern, die in der Stellungnahme G 3/89 (ABl. 1993, 117) und in der Entscheidung G 11/91 (ABl. 1993, 125) aufgestellt wurde und mittlerweile zum allgemein akzeptierten Maßstab oder auch Goldstandard für die Beurteilung geworden ist, ob eine Änderung mit Art. 123 (2) EPÜ in Einklang steht. Was die anzuwendenden Kriterien betreffe, gelte also der Grundsatz, dass jede Änderung einer Anmeldung oder eines Patents und insbesondere eines Anspruchs die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllen muss, auch für eine Änderung, die den Anspruch durch den Disclaimer eines offenbarten Gegenstands einschränkt. Genau wie bei jeder anderen Änderung sei also bei der Änderung eines Anspruchs, durch die ein Gegenstand ausgeklammert wird, der in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Teil der Erfindung offenbart war, zu prüfen, ob sie dazu führt, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält. Das Ausklammern eines in der Anmeldung offenbarten Gegenstands kann folglich ein Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ sein, wenn es dazu führt, dass der Fachmann technische Informationen erhält, die er der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen würde.
Der Bezugspunkt für die Beurteilung, ob ein geänderter Anspruch die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt, ist der Gegenstand, den der Anspruch nach der Änderung enthält, d. h. der nach der Änderung im Anspruch verbleibende Gegenstand. Zu prüfen ist, ob der Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens den verbleibenden beanspruchten Gegenstand als explizit oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde. Die Prüfung ist dieselbe, mit der auch die Zulässigkeit einer Anspruchsbeschränkung durch ein positiv definiertes Merkmal geprüft wird. Es war kein überzeugender Grund dafür vorgebracht worden, die im Rahmen von Art. 123 (2) EPÜ entwickelten Grundsätze für die Beurteilung von Anspruchsänderungen durch die Aufnahme positiver beschränkender Merkmale nicht ebenso auf Anspruchsbeschränkungen durch Disclaimer anzuwenden, die in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbarte Gegenstände ausklammern. Es ist unabdingbar, dass in jeder Beziehung ein einheitliches Offenbarungskonzept angewandt wird (unter Hinweis auf Art. 54, 87 und 123 EPÜ, s. G 2/10, Nr. 4.6 der Gründe mit Bezugnahme auf G 1/03, ABl. 2012, 436).
Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr in G 2/10 (ABl. 2012, 376) aufgrund der Vorlage aus T 1068/07 date: 2010-06-25 (ABl. 2011, 256) vorgelegten zwei Fragen wie folgt:
(1) Die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines Disclaimers, der einen in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbarten Gegenstand ausklammert, verstößt dann gegen Art. 123 (2) EPÜ, wenn der nach Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibende Gegenstand dem Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, nicht in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart wird, sei es implizit oder explizit.
(2) Ob dies der Fall ist, muss anhand einer technischen Beurteilung aller technischen Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt werden, bei der es Art und Umfang der Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung, Art und Umfang des ausgeklammerten Gegenstands sowie dessen Verhältnis zu dem nach der Änderung im Anspruch verbleibenden Gegenstand zu berücksichtigen gilt.
Gemäß T 1676/08 gelten die in G 2/10 dargelegten Grundsätze für die Erfordernisse, die erfüllt sein müssen, damit Änderungen durch die Aufnahme von Disclaimern für offenbarte Gegenstände nach Art. 123 (2) EPÜ zulässig sind, auch für die an Teilanmeldungen nach Art. 76 (1) EPÜ zu stellenden Erfordernisse sowie für die Prüfung nach Art. 100 c) EPÜ.
Wie in den Entscheidungen G 1/03 (und G 2/03) hat die Große Beschwerdekammer in G 2/10 ausdrücklich angeführt, welche Beschwerdekammerentscheidungen nicht mehr zu befolgen seien. So werden die folgenden Entscheidungen kritisiert: T 1050/99 und T 1102/00.