4.2.2 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens im Sinne von Artikel 13 (1) und (2) VOBK 2020
In T 247/20 und T 2988/18 urteilten die Kammern, ausgehend von einer systematischen Auslegung von Art. 13 (1) und (2) VOBK 2020 und Art. 12 (2) VOBK 2020, Art. 12 (3) VOBK 2020 und Art. 12 (4) VOBK 2020, dass eine Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten ein Vorbringen darstellt, dass sich nicht auf die Anträge, Tatsachen, Einwände und Beweismittel richtet, die der Beteiligte in seiner Beschwerdebegründung oder seiner Erwiderung geltend gemacht hat. Anders gesagt, sie liegt außerhalb des darin festgelegten Rahmens.
Diese Definition wurde in T 247/20 wie folgt erläutert: Die VOBK 2020 enthielten keine Definition von "Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten", würden jedoch helfen zu bestimmen, was mit "Änderung" und dem "vollständigen Beschwerdevorbringen eines Beteiligten" gemeint sei. Art. 12 (3) VOBK 2020 verlange, dass die Beschwerdebegründung und die Erwiderung "das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten" enthalten müssten. Darin müsste also angegeben werden, warum die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen sei, und es sollten ausdrücklich und spezifisch "alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel" angeführt werden. Art. 12 (4) VOBK 2020 definiere, was mit einer Änderung gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren gemeint sei, nämlich alles, was nicht die Anforderungen von Art. 12 (2) VOBK 2020 erfülle. So sei eine Änderung – abgesehen von einer eindeutig definierten Ausnahme – das, was sich nicht "auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel [richtet], die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen". Die Kammer übertrug diese Definition dann auf Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten. Im vorliegenden Fall zielten alle vom Beschwerdeführer während der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente, gegen die Beschwerdegegner 2 Einwände erhob, darauf ab, die bereits mit der Beschwerdebegründung vorgetragenen Argumente zu veranschaulichen, zu präzisieren oder weiterzuentwickeln und die von Beschwerdegegner 2 in diesem Zusammenhang vorgebrachten Argumente zu widerlegen, und kamen nach Ansicht der Kammer nicht einer Änderung des Beschwerdevorbringens des Beschwerdeführers gleich. Die Kammer fügte hinzu, dass mündliche Verhandlungen gegenstandslos wären, wenn die Beteiligten lediglich die bereits schriftlich vorgelegten Argumente wiederholen dürften. Vielmehr müsse es den Beteiligten gestattet sein, ihre Argumente zu präzisieren, sie sogar zu ergänzen, sofern sie im Rahmen der Argumente blieben, was natürlich auch für die Beweismittel gelte, die rechtzeitig im schriftlichen Verfahren vorgelegt wurden.
Ebenso befand die Juristische Beschwerdekammer in J 14/19, dass im Sinne einer systematischen Auslegung die Frage, ob ein Vorbringen eine "Änderung des Beschwerdevorbringens" im Sinne des Art. 13 VOBK 2020 bewirkt, unter Heranziehung der in Art. 12 (2) VOBK 2020 enthaltenen Aufzählung der möglichen Bestandteile von Beschwerdevorbringen zu beantworten ist. Auch sie kam zu dem Schluss, dass Vorbringen, das nicht auf die in der Beschwerdebegründung oder Erwiderung enthaltenen Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel gerichtet ist, eine Änderung des Beschwerdevorbringens bewirkt. Dies ergebe sich auch aus Art. 12 (3) VOBK 2020, in dem ebenfalls auf diese Bestandteile von Beschwerdevorbringen Bezug genommen wird.
In T 100/18 erläuterte die Kammer jedoch, der vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) angeführte Art. 12 (3) VOBK 2020 nenne zwar Anforderungen an Beschwerdebegründung und Erwiderung, er definiere jedoch nicht, was als Änderung des Beschwerdevorbringens anzusehen sei. Vielmehr stellte die Kammer allein auf die Erfüllung der Erfordernisse nach Art. 12 (2) VOBK 2020 ab. Im betreffenden Fall ging der Inhalt eines erst nach der Frist zur Erwiderung eingegangenen Schreibens nicht über die Anträge, Tatsachen, Argumente und Beweismittel hinaus, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen. Das Vorbringen erfüllte daher die Erfordernisse des Art. 12 (2) VOBK 2020 und war auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens gerichtet, nämlich die gerichtliche Überprüfung der angefochtenen Entscheidung.
Die Juristische Beschwerdekammer hob in J 14/19 ferner hervor, dass auf Ebene des EPÜ die Möglichkeit, verspätetes Vorbringen nicht zuzulassen, in Art. 114 (2) EPÜ geregelt ist (im Hinblick auf Änderungen der Patentanmeldung oder des Patents ergänzt durch Art. 123 (1) EPÜ). Auf Grundlage von Art. 114 (2) EPÜ könne verspätetes Vorbringen, das ein Tatsachenelement enthält, unberücksichtigt bleiben.
In T 482/18 stimmte die Kammer der in T 1914/12 vertretenen Auffassung zu, wonach die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum haben, teilweise zu. Art. 114 (2) EPÜ 1973 (bei der Revision 2000 unverändert geblieben) stelle keine Grundlage dar, um Argumente zurückzuweisen. Die Kammer fasste aber den Begriff "Argument" eng und setzte ihn mit Rechtsausführungen gleich (s. hierzu auch Kapitel V.A.4.2.2 l) und V.A.4.2.2 n) "Neuer Einwand gestützt auf bereits im Verfahren befindliche Dokumente – neue Argumente mit Tatsachenelementen"). Die Kammer widersprach auch der Auffassung, wonach die sich aus den Patentdokumenten ergebenden Tatsachen ohne ausdrückliche Geltendmachung Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind (s. unten Kapitel V.A.4.2.2 l).
In mehreren Entscheidungen wurde betont, dass Vorbringen eines Beteiligten während des dem Beschwerdeverfahren vorausgegangenen Verwaltungsverfahrens nicht automatisch Teil eines anschließenden Beschwerdeverfahrens ist, wenn dieses nicht zu Beginn des Beschwerdeverfahrens in substantiierter Weise wiederholt wurde (s. z. B. T 1577/19, T 276/17 und T 2024/16, zusammengefasst in Kapitel V.A.4.2.2 b) "Vorbringen in erster Instanz nicht automatisch Teil des Beschwerdevorbringens"). In T 1439/16 hob die Kammer hervor, dass der Umfang der Beschwerde vom Beschwerdeführer definiert wurde und die Beschwerdebegründung gemäß Art. 12 (3) VOBK 2020 das vollständige Vorbringen eines Beteiligten enthalten musste. Im vorliegenden Fall war es die Entscheidung des Beschwerdeführers, in der Beschwerdebegründung nur gegen Anspruch 1 und nicht gegen Anspruch 8 einen Einwand zu erheben.
In T 319/18 wies die Kammer darauf hin, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Kammern nicht aus sich heraus verständliche Anträge erst an dem Tag wirksam werden, an dem sie substantiiert werden (s. z. B. T 1732/10). Siehe auch T 2457/16. Siehe auch Kapitel V.A.5.12.6 "Nicht substantiierte Anträge" zur Rechtsprechung im Rahmen der VOBK 2007.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”