2.6. Versand einer weiteren Mitteilung in Anbetracht von Artikel 113 (1) EPÜ
In T 951/92 (ABl. 1996, 53) stellte die Kammer fest: Sollte ein Bescheid gemäß R. 51 (3) EPÜ 1973 und Art. 96 (2) EPÜ 1973 nicht die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe darlegen, die zur Feststellung der Nichterfüllung eines Erfordernisses des EPÜ führen würden, so kann eine auf einer derartigen Feststellung beruhende Entscheidung nicht erlassen werden, ohne gegen Art. 113 (1) EPÜ 1973 zu verstoßen, bis nicht ein Bescheid ergeht, der solch wesentliche Gründe enthält. Wenn eine Entscheidung ohne einen Bescheid mit solch wesentlichen Gründen erlassen wird, verstoße dies auch gegen Art. 96 (2) EPÜ 1973, da es zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 113 (1) EPÜ 1973 "notwendig" sei, einen weiteren Bescheid herauszugeben (s. auch T 520/94, T 750/94, ABl. 1998, 32; T 487/93, T 121/95, T 677/97). Die Kammer fügte dieser Rechtsprechung zusammenfassend hinzu, es sei Sinn und Zweck des Art. 113 (1) EPÜ 1973 sicherzustellen, dass, bevor die Zurückweisung einer Anmeldung aus Gründen der Nichterfüllung eines Erfordernisses des EPÜ erlassen wird, der Anmelder vom EPA eindeutig von den wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründen für die Feststellung der Nichterfüllung in Kenntnis gesetzt wird, damit er vor der Entscheidung weiß, dass die Anmeldung möglicherweise zurückgewiesen wird und aus welchem Grund dies geschehen könnte, und damit er eine angemessene Gelegenheit zur Stellungnahme zu solchen Gründen und/oder zur Einreichung von Änderungsvorschlägen erhält, um die Zurückweisung der Anmeldung zu verhindern. Der Begriff "Gründe" in Art. 113 (1) EPÜ 1973 sollte daher nicht eng ausgelegt werden. Insbesondere ist damit im Prüfungsverfahren nicht nur ein einzelner Grund für eine Beanstandung der Anmeldung im engeren Sinne eines Erfordernisses des EPÜ gemeint, das als nicht erfüllt angesehen wird. Unter dem Begriff "Gründe" sind vielmehr die wesentlichen Gründe sowohl rechtlicher als auch tatsächlicher Art zu verstehen, die die Zurückweisung der Anmeldung bedingen (T 187/95). Mit anderen Worten, der Anmelder muss vor Erlass einer Entscheidung über die Gründe unterrichtet werden, die ihm vorgehalten werden, und er muss auch die Möglichkeit erhalten, darauf einzugehen (s. auch T 520/94; T 750/94, ABl. 1998, 32; T 487/93; T 121/95).
In T 907/91 wies die Prüfungsabteilung die Anmeldung zurück, ohne dass dem Anmelder die Gründe für das Nichteinverständnis mit den geänderten Unterlagen, die er nach Erhalt des ersten Prüfungsbescheids und nach der mündlichen Verhandlung eingereicht hatte, mitgeteilt wurden. Die Beschwerdekammer sah in dieser Verfahrensweise einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ 1973, da die Prüfungsabteilung vor Erlass der angefochtenen Entscheidung im schriftlichen oder mündlichen Verfahren hätte darlegen müssen, aus welchen Gründen sie ihre Zustimmung verweigert. Solche Gründe könnten formaler oder materiellpatentrechtlicher Natur gemäß den einschlägigen Bestimmungen sein. Es könnten aber auch Gründe zum Tragen kommen, die auf allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts beruhen (Art. 125 EPÜ 1973), wie beispielsweise die Vorlage einer exzessiv hohen Anzahl von das Verfahren verschleppenden Änderungsanträgen seitens des Anmelders, die auf einem offensichtlichen Missbrauch des Patenterteilungsverfahrens beruhen.
In T 763/04 stellte die Kammer fest, dass in Art. 113 (1) EPÜ das Recht eines Beteiligten verankert ist, sich zu äußern, bevor eine Entscheidung gegen ihn getroffen wird. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern (s. J 7/82, ABl. 1982, 391, und T 94/84, ABl. 1986, 337) beinhaltet dies auch das Recht, dass alle relevanten Gründe in der schriftlichen Entscheidung vollständig berücksichtigt werden. Art. 113 (1) EPÜ 1973 wird nach Auffassung der Kammer verletzt, wenn wie im vorliegenden Fall Tatsachen und Argumente, die dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge für seine Verteidigung eindeutig von zentraler Bedeutung sind und gegen die erlassene Entscheidung sprechen könnten, in der betreffenden Entscheidung völlig übergangen werden. Art. 113 (1) EPÜ 1973 bedeutet nicht nur, dass einer Partei Gelegenheit gegeben werden muss, sich zu äußern, sondern vor allem auch, dass dieses Vorbringen von der entscheidenden Instanz nachweislich gehört und berücksichtigt werden muss. Das rechtliche Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ 1973 wird verletzt, wenn wichtige Tatsachen und Argumente, die gegen die erlassene Entscheidung sprechen könnten, in der Entscheidung der ersten Instanz weder erwähnt noch berücksichtigt werden. S. auch T 206/10, T 246/08.