8.1.3 Anwendbarkeit von G 2/88 und G 6/88 auf Verfahrensansprüche
In T 461/07 wies die Kammer darauf hin, dass es gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern keine Basis für die Auffassung gibt, dem Zweck der Durchführung eines Verfahrens die Wirkung eines funktionellen technischen Merkmals zuzugestehen, das dieses Verfahren von mit identischen Verfahrensmerkmalen, zu einem anderen Zweck durchgeführten Verfahren unterscheidbar macht (T 210/93 und T 1343/04).
In T 210/93 hatte die Prüfungsabteilung dem ursprünglich beanspruchten Verfahren zur Herstellung eines Kautschukerzeugnisses die Neuheit abgesprochen, weil der beanspruchte Temperaturbereich in D1 vorveröffentlicht war. Mit Bezug auf G 2/88 und G 6/88 beanspruchte der Anmelder daraufhin die Verwendung dieses bekannten Verfahrens zum Zweck der Herstellung des Kautschukerzeugnisses mit einem bestimmten maximalen Anteil des Bestandteils X. Da das besagte Molverhältnis in D1 nicht offenbart sei, stelle dies einen "spezifischen technischen Zweck zur Erzielung der nicht vorbekannten chemischen Strukturanordnung" dar. Die Kammer verwies darauf, dass sich die Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 auf Ansprüche bezogen, die auf die Verwendung eines bekannten Stoffs gerichtet waren, der Anspruch des Beschwerdeführers dagegen die Verwendung eines bekannten Verfahrens zu einem bestimmten Zweck betreffe, nämlich zur Herstellung eines bestimmten Erzeugnisses, das naturgemäß aus einem solchen Verfahren hervorgehe. Nach Ansicht der Kammer ist die Verwendung eines Verfahrens zum Zweck der Herstellung des Verfahrensprodukts (der Verfahrensprodukte) nichts anderes als das Verfahren selbst; der Schutzumfang wäre für einen Verfahrensanspruch derselbe wie für einen Verwendungsanspruch (bestätigt in T 684/02 und T 2215/08).
In T 684/02 stellte die Kammer fest, dass Anspruch 1 auf die Verwendung eines Fluorierungsreaktionsverfahrens gerichtet ist, mit dem instabile Endgruppen aus dem Ausgangspolymer beseitigt werden sollen. Die Wirkung dieses Verfahrens zeige sich im Ergebnis, d. h. im Erzeugnis, mit allen ihm innewohnenden Eigenschaften und den Folgen seiner besonderen Herstellung (s. T 119/82; ABl. 1984, 217), aber nicht in einer Wirkung, die sich aus einer besonderen Verwendung des Produkts ergäbe. Darüber hinaus richte sich nach Auffassung der Kammer ein Anspruch auf die Verwendung eines Verfahrens oder auf das Verfahren selbst an den Hersteller eines Erzeugnisses und zwar unabhängig von etwaigen sonstigen Verwendungsmöglichkeiten, Methoden der Weiterverarbeitung oder weiteren Anwendungen des Erzeugnisses, während ein Anspruch auf die Verwendung eines Erzeugnisses eindeutig an den Kunden/Nutzer gerichtet sei. Mit anderen Worten könne der geltend gemachte Vorteil oder Zweck in Anspruch 1 nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und auch aus technischen Gründen nicht als funktionelles technisches Merkmal gewertet werden, weil dieser Vorteil oder Zweck nur das (mittels irgendeines Verfahrens hergestellte) Erzeugnis betreffe, wenn es unter bestimmten Umständen und Randbedingungen angewendet werde.
In T 1039/09 waren die physischen Schritte des beanspruchten Verfahrens dieselben wie die bereits aus dem Stand der Technik bekannten. Es wurde jedoch vorgebracht, dass der Zweck des Verfahrens, nämlich die Erzeugung von Kuhmilch mit einem einen im Verhältnis zu den ungesättigten Fettsäuren geringeren Anteil an gesättigten Fettsäuren, ebenfalls ein technisches Merkmal sei, das bei der Beurteilung der Neuheit von Anspruch 1 in Betracht gezogen werden müsse. Die Kammer erklärte, dass sich der strittige Anspruch auf ein bekanntes Verfahren für einen bestimmten Zweck richte, nämlich die Herstellung eines Erzeugnisses, wobei das Erzeugnis das zwangsläufige Ergebnis des bekannten Verfahrens und nicht von dem Erzeugnis unterscheidbar sei, das im Stand der Technik hergestellt werde. Also stellte sich die Frage, ob der Zweck als funktionelles technisches Merkmal eines Anspruchs angesehen werden kann, der auf ein Verfahren zur Herstellung eines durch Verfahrensschritte charakterisierten Erzeugnisses gerichtet ist, wobei der Zweck der Ausführung dieser Verfahrensschritte im Anspruch angegeben ist. Nach Auffassung der Kammer würde der Fachmann das Verfahren im vorliegenden Fall für keinen anderen Zweck als den der Herstellung von dessen zwangsläufigem Produkt anwenden, nämlich von Milch, die ausschließlich Beta-Casein mit einem Prolin an Position 67 enthält und somit einen im Verhältnis zu den ungesättigten Fettsäuren geringeren Anteil an gesättigten Fettsäuren aufweist. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die für die Beurteilung der Neuheit des Verfahrens nach Anspruch 1 relevanten technischen Merkmale dessen physische Schritte waren und dass das Dokument (D3), das diese physischen Schritte offenbarte, den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags vorwegnahm.
In T 1822/12 brachte der Beschwerdeführer vor, dass der Stand der Technik weder den Zweck der Verfahrensschritte offenbare, der in Anspruch 1 als "Verfahren zur Reduzierung der Acrylamid-Bildung in thermisch verarbeiteten Lebensmitteln" definiert war, noch den Schritt des "Kochen[s] des Lebensmittels, um ein gekochtes Lebensmittel mit einer verminderten Acrylamid-Konzentration […] zu bilden". Seiner Auffassung nach handelte es sich bei diesem Zweck und diesem Schritt um Merkmale, die den Schutzumfang des Anspruchs 1 beschränkten und ihn von den Offenbarungen des Stands der Technik abhoben. In Bezug auf den genannten Zweck argumentierte er, dass die in G 2/88 und G 6/88 für beschränkende funktionelle Merkmale eines Anspruchs aufgestellten Grundsätze in gleicher Weise für den vorliegenden Verfahrensanspruch gelten sollten. Die Kammer befand jedoch, dass sich G 2/88 ausschließlich auf Verwendungsansprüche beziehe, also auf Ansprüche, die eine neue Verwendung eines bekannten Stoffs zum Gegenstand haben. Sie entschied, dass Anspruch 1 des Hauptantrags, der sich auf das bekannte Verfahren zur thermischen Verarbeitung von Lebensmitteln mit dem unbekannten Zweck der Reduzierung der Acrylamid-Bildung bezog, nicht so ausgelegt werden könne, dass er diesen Zweck als funktionelles technisches Unterscheidungsmerkmal einschließt.