3.2.4 Offenkundige Vorbenutzung
Im Fall T 84/83 war ein neuartiger Winkelspiegel mindestens sechs Monate lang zu Vorführzwecken in einem Kraftfahrzeug eingebaut gewesen. Die Kammer sah darin eine öffentliche Vorbenutzung, da das Fahrzeug in einem solchen Zeitraum erfahrungsgemäß auch auf öffentlichen Verkehrsflächen abgestellt werde und dort der Betrachtung durch Dritte zugänglich sei.
Im Fall T 1416/10 ging es um die offenkundige Vorbenutzung einer vom Patentinhaber unter der Modellnummer WD-R100C hergestellten und vertriebenen Waschmaschine. Die Kammer stellte fest, dass zwar für diese spezielle Waschmaschine kein Beweis dafür vorgelegt worden war, dass sie der Öffentlichkeit tatsächlich vor dem für das Streitpatent relevanten Datum zugänglich war; es sei jedoch höchst unwahrscheinlich, dass diese spezielle Maschine mehr als einen Monat beim Hersteller geblieben sei, bevor sie zum Verkauf an einen Händler ausgeliefert wurde; aus den vom Einsprechenden vorgelegten Beweise könne praktisch mit absoluter Gewissheit geschlossen werden, dass Waschmaschinen mit der Modellnummer WD-R100C vor dem für das Streitpatent relevanten Datum bei Händlern zum Verkauf angeboten und damit öffentlich zugänglich waren.
In T 1682/09 betraf die vom Beschwerdeführer behauptete offenkundige Vorbenutzung eine Vorrichtung für ein Wägesystem. Es wurde festgestellt, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Verkauf einer Vorrichtung – sofern keine besonderen Umstände vorliegen – ausreichend ist, um diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im fraglichen Fall wurde die Vorrichtung nur gemietet, sie war nicht Eigentum der Firma. Dennoch befand die Kammer, dass der Aufbau der Vorrichtung in den Räumlichkeiten einer Firma sowie die nachfolgenden üblichen Einführungs-, Schulungs- und Wartungsmaßnahmen für die Vorrichtung in diesen Räumlichkeiten die Merkmale der Vorrichtung für die Firma zugänglich gemacht haben, die zu dem Zeitpunkt ein Mitglied der Öffentlichkeit war.
In T 2440/12 war die Erfindung ein von einem Computer auszuführendes Verfahren. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Vorbenutzung eines Softwareprodukts in Form eines kommerziellen Vertriebs das durch die Software umgesetzte Verfahren zum Stand der Technik macht, weil der Fachmann die Software im Prinzip Zeile für Zeile auf einem Computer ausführen könnte und dabei nicht nur das Verfahren ausführen, sondern auch Kenntnis der vom Computer ausgeführten Verfahrensschritte erlangen würde. Die Kammer stimmte dem Beschwerdeführer darin zu, dass selbst eine anderweitige "Offenbarung" des Verfahrens, nämlich durch Ausführung auf einem Computer Zeile für Zeile ohne Verletzung des Urheberrechts, schon neuheitsschädlich für das beanspruchte Verfahren ist. Somit war der Gegenstand des Anspruchs 1 aufgrund der Vorbenutzung eines Softwareprodukts, das unbestritten den beanspruchten Gegenstand umfasste, nicht neu.
In T 2210/12 vertrat die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) die Meinung, dass die Aufstellung einer Maschine auf einem geschlossenen Werksgelände von VW nicht zu einer öffentlichen Zugänglichmachung führe (vgl. T 245/88, T 901/95 in Bezug auf Werften). Die Kammer sah jedoch als erwiesen an, dass die Lieferung ohne Geheimhaltungsvorbehalt erfolgt war. Da die Firma VW bereits selbst einen Teil der Öffentlichkeit darstelle, sei unerheblich, ob weitere Dritte Zugang zum Werksgelände hatten oder nicht. Vgl. T 2273/11.
In T 1647/15, wo sich ein Beteiligter über die Äußerungen des Vorsitzenden der Einspruchsabteilung beschwerte, mit denen er zum Schweigen gebracht werden sollte, entschied die Kammer nach der Behandlung dieses Aspekts und angesichts der langen Dauer des Falls, ihn nicht an die erste Instanz zurückzuverweisen. Sie hielt die angebliche Vorbenutzung (Verkauf von drei Typen des Anhängers der Firma Scheuerle – Fotos wurden vorgelegt) für erwiesen. Bezüglich der Fotos machte der Patentinhaber geltend, dass die Anhänger seit dem Prioritätstag des Patents verändert worden sein könnten. Unter Berücksichtigung des Allgemeinwissens und der Tatsache, dass sich der beanspruchte Gegenstand auf das grundlegende Design des Anhängers bezog, schien es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass es bei diesen sehr speziellen Fahrzeugen bedeutsame Änderungen im Design gegeben hatte, die sich auf die Merkmale des Anspruchs ausgewirkt haben.