5.11.4 Einseitiges Beschwerdeverfahren
Nach Art. 123 (1) EPÜ ist dem Anmelder in jedem Fall zumindest einmal Gelegenheit zu geben, von sich aus die Anmeldung zu ändern. Weitere Änderungen sind abhängig von der Zustimmung der Prüfungsabteilung, R. 137 (3) EPÜ. Laut R. 100 (1) EPÜ ist diese Vorschrift im Beschwerdeverfahren gegen Entscheidungen der Prüfungsabteilungen entsprechend anzuwenden (T 1969/08). Gemäß Art. 12 (4) VOBK 2007 ist die Kammer befugt, Anträge nicht zuzulassen, die im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen worden sind.
In T 1178/08 wies die Kammer darauf hin, dass es in einem Ex-parte-Verfahren im Ermessen der Kammer liegt, Anträge zuzulassen, die bereits der ersten Instanz hätten vorgelegt werden können (Art. 12 (4) VOBK 2007). Sie muss bei der Ausübung dieses Ermessens den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung tragen. Dieselbe Auffassung sei auch in früheren Entscheidungen in einem anderen Kontext in Inter-partes-Verfahren vertreten worden (s. R 10/09, T 144/09, R 11/11 sowie T 1007/05). Der Kammer war durchaus bewusst, dass zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichte geänderte Ansprüche in vielen Fällen zum Beschwerdeverfahren zugelassen worden sind, wenn sie eine legitime Reaktion auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung darstellten. Tatsächlich können solchermaßen geänderte Ansprüche, die zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht werden, dem Ziel einer "genauer abgegrenzten und kontrollierten ersten Verfahrensphase" dienen (s. T 1007/05). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kammer geänderte Ansprüche schon allein deswegen zulassen muss, weil sie zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden. Im vorliegenden Fall war dem Anmelder im erstinstanzlichen Verfahren mehrfach Gelegenheit gegeben worden, geänderte Ansprüche einzureichen. Er hatte keine Hilfsanträge eingereicht. Dadurch, dass er seinen einzigen, geänderten Antrag erst im Beschwerdeverfahren eingereicht hatte, hatte der Beschwerdeführer es der Kammer unmöglich gemacht, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen.
In T 1802/12 war dem Anmelder ebenfalls im erstinstanzlichen Verfahren mehrfach Gelegenheit gegeben worden, geänderte Ansprüche einzureichen. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Hilfsantrag während des erstinstanzlichen Verfahrens hätte eingereicht werden können und sollen. Zwar hatte die Prüfungsabteilung nur eine Mitteilung gemäß Art. 94 (3) EPÜ erlassen, sie hatte aber die darin erhobenen Klarheitseinwände in der Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung ausführlich wiederaufgegriffen. Die mündliche Verhandlung war auf Antrag des Beschwerdeführers zweimal verschoben worden, und dennoch war dieser nicht erschienen).
In T 1472/08 kam die Kammer zu dem Schluss, dass es nicht Aufgabe des Prüfungsbeschwerdeverfahrens sein kann, das Prüfungsverfahren durch die Zulassung von Ansprüchen mit erweiterten Definitionen von Merkmalen völlig neu aufzurollen, sofern diese Ansprüche bereits im Prüfungsverfahren hätten vorgelegt werden können und diese Erweiterungen nicht zum Ausräumen von Einwänden sachdienlich sind, welche in der angefochtenen Entscheidung oder von der Kammer erhoben wurden (s. auch T 2000/09 und T 1428/11).
In T 1212/08 beanstandete die Prüfungsabteilung in ihrem Ladungsbescheid zur mündlichen Verhandlung die Klarheit, Neuheit und erfinderische Tätigkeit der beanspruchten Gegenstände. Der Anmelder bat daraufhin um eine Entscheidung nach Lage der Akte. Der Hilfsantrag 2 wurde erstmalig mit der Beschwerdebegründung vorgebracht. Die Kammer erwog, ob sie diesen neuen Sachverhalt erstmalig im Beschwerdeverfahren prüfen und darüber entscheiden sollte, oder ob sie die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverweisen sollte. Sie hielt jedoch keine der beiden Optionen für adäquat und akzeptabel. Sie war der Auffassung, dass das aus der Beschreibung entnommene Merkmal einen neuen Aspekt darstellte, der in den ursprünglichen Ansprüchen keine Entsprechung fand. Auch die Option einer Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz wies die Kammer zurück, da dadurch das Verfahren beträchtlich verlängern werden würde. Die Kammer wies darauf hin, dass diese beiden inadäquaten Verfahrensabläufe, durch das rechtzeitige Vorbringen des Hilfsantrags 2 vor der Prüfungsabteilung gar nicht erst entstanden wären (s. auch T 892/11).
In T 1108/10 bestätigte die Kammer T 1212/08. Das Beschwerdeverfahren sei weder die Fortsetzung des erstinstanzlichen Prüfungsverfahrens noch ein zweites, je nach Umständen von den Patentanmeldern wählbares und frei aufrufbares Parallelverfahren für die ansonsten durch eine zuständige Prüfungsabteilung durchzuführende Sachprüfung. S. auch T 1841/08.
In T 1768/11 hätte der Beschwerdeführer erkennen müssen, dass er auf die von der Prüfungsabteilung neu erhobenen Einwände hin geänderte Anträge hätte einreichen müssen, doch tat er dies nicht. Er zog es offenbar vor, das noch laufende Verfahren vor der Prüfungsabteilung zu beenden und die Sache stattdessen direkt vor der Beschwerdekammer weiterzuverfolgen. Genau das soll Art. 12 (4) VOBK 2007 eigentlich verhindern. Da die nun in der Akte befindlichen Anträge der Kammer aber keine Schwierigkeiten bereiteten, übte sie ihr Ermessen zugunsten des Beschwerdeführers aus und ließ die Anträge zum Verfahren zu.
Auch in T 1569/13, T 1906/13, T 1818/16, T 1648/17 und T 14/20 wurden die erst im Beschwerdeverfahren gestellten Hilfsanträge nicht zugelassen.