3.2. Versuche zur Lösung des Konflikts
Die Große Beschwerdekammer nennt in G 1/93 (ABl. 1994, 541) drei Fälle, in denen das Patent aufrechterhalten werden könnte:
- Wenn sich das hinzugefügte, nicht offenbarte Merkmal ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ 1973 durch ein in der ursprünglichen Anmeldung offenbartes anderes Merkmal ersetzen lasse, könne das Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten werden (G 1/93, Leitsatz 1). S. dieses Kapitel II.E.3.2.2 unten.
- Ein hinzugefügtes, nicht offenbartes Merkmal ohne jegliche technische Bedeutung könne ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ 1973 aus einem Anspruch gestrichen werden. (G 1/93, Nr. 4 der Gründe mit Verweis auf T 231/89). S. dieses Kapitel II.E.3.2.3 unten.
- Ein hinzugefügtes, nicht offenbartes Merkmal, das keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leiste, sondern lediglich den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränke, indem es den Schutz für einen Teil des Gegenstands der in der ursprünglichen Anmeldung beanspruchten Erfindung ausschließe, sei nicht als Gegenstand zu betrachten, der im Sinne von Art. 123 (2) EPÜ 1973 über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Auch in diesem Fall könne das Patent aufrechterhalten werden (G 1/93, Leitsatz 2). S. dieses Kapitel II.E.3.2.4 unten.
In T 1180/05 gelangte die Kammer auf der Grundlage der Entscheidungen G 1/93 und G 1/03 (ABl. 2004, 413) zu Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 und zu Disclaimern zu der Auffassung, dass die Streichung eines Merkmals, das über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgeht, in einem gewährten Anspruch und seine Wiedereinführung in Form eines Disclaimers, der bewirkt, dass der Gegenstand des Anspruchs unverändert bleibt, nicht geeignet ist, den potenziellen Konflikt zwischen Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 zu vermeiden. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent in einer geänderten Form aufrechtzuerhalten, wurde aufgehoben und das Patent widerrufen.
Weitere Umstände, unter denen die Kammern eine Lösung des Konflikts für möglich gehalten haben, sind in T 1127/16 aufgeführt:
- Das hinzugefügte, nicht offenbarte, einschränkende Merkmal könnte ohne Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973 beibehalten werden, sofern ein weiteres einschränkendes Merkmal, das in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ordnungsgemäß offenbart ist und den technischen Beitrag des nicht offenbarten Merkmals zu der beanspruchten Erfindung gegenstandslos macht, in den Anspruch aufgenommen wird (T 553/99).
- Das hinzugefügte, nicht offenbarte Merkmal könnte de facto ignoriert werden, wenn es den übrigen Merkmalen des betreffenden Anspruchs nichts hinzufügt und folglich als redundant gelten kann (T 310/13).
- Wenn das nicht offenbarte Merkmal – in T 131/15 eine Formulierung – bei wörtlicher und isolierter Auslegung bewirkt, dass alle offenbarten Ausführungsformen aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden, sich aber aus dem Patent selbst eine Definition dieser Formulierung herleiten lässt, der zufolge die offenbarten Ausführungsformen (oder zumindest einige davon) unter den Anspruch fallen würden, so sollte der Schutzbereich bei der Beurteilung, ob die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ erfüllt sind, in der Regel so ausgelegt werden, dass er zumindest das umfasst, was gemäß dieser Definition – sofern sie angesichts der normalen Bedeutung der in der Formulierung verwendeten Worte nicht offensichtlich sinnwidrig ist – unter den Anspruch fallen würde (T 131/15). Die Kammer in T 1127/16 äußerte Zweifel an diesem Test und sah einen Unterschied zwischen dem ihr vorliegenden und dem in T 131/15 behandelten Fall. Zu diesen beiden Entscheidungen und zu früheren Entscheidungen betreffend Inkonsistenzen und die unentrinnbare Falle zwischen den Erfordernissen von Art. 123 (2) und (3) EPÜ s. dieses Kapitel II.E.3.2.5 unten.
- Ein weiterer in T 1127/16 angeführter Fall (Ersetzung des hinzugefügten, nicht offenbarten Merkmals durch ein breiteres Merkmal) wird nachstehend in Kapitel II.E.3.2.2 als Unterbeispiel des in Leitsatz 1 von G 1/93 beschriebenen Sachverhalts behandelt.
In T 335/03 hat die Kammer darauf hingewiesen, dass das Übereinkommen der Entscheidung G 1/93 zufolge keine Stütze für eine Fußnote in einem Anspruch bietet, die folgenden Wortlaut hat: "Dieses Merkmal ist Gegenstand einer unzulässigen Erweiterung. Es können keine Rechte aus diesem Merkmal hergeleitet werden". Mit anderen Worten, eine Fußnotenlösung in Konfliktsituation nach Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 ist unzulässig (s. auch T 307/05, T 614/12 und T 474/15).