2. Einleitung eines Befangenheitsverfahrens und weitere Verfahrensfragen
Art. 24 (2) EPÜ besagt, dass wenn ein Mitglied einer Beschwerdekammer oder der Großen Beschwerdekammer glaubt, aus einem der in Art. 24 (1) EPÜ genannten Gründe oder aus einem sonstigen Grund an einem Verfahren nicht mitwirken zu können, es dies der Kammer mitteilt.
In G 1/05 vom 7. Dezember 2006 date: 2006-12-07 (ABl. 2007, 362) teilte ein Mitglied der Großen Beschwerdekammer dieser mit, dass es am Vorlageverfahren nicht mitwirken sollte, weil einer der Einsprechenden in dem dem betreffenden Vorlageverfahren zugrunde liegenden Fall von der Kanzlei vertreten wurde, an der ihr Ehemann und ihr Sohn als Partner beteiligt waren. Die Große Beschwerdekammer stellte Folgendes fest: Gibt ein Beschwerdekammermitglied in einer Selbstablehnungserklärung nach Art. 24 (2) EPÜ 1973 daher einen Grund an, der seine Ablehnung wegen Befangenheit rechtfertigen könnte, so sollte dem grundsätzlich durch die Entscheidung zur Auswechslung des betreffenden Kammermitglieds Rechnung getragen werden, weil davon ausgegangen werden kann, dass das betreffende Mitglied am besten weiß, ob es der Befangenheit verdächtigt werden könnte.
In J 15/04 stellte die Kammer fest, dass die Selbstablehnungserklärung eines Kammermitglieds nicht automatisch dessen endgültige Ausschließung aus dem Verfahren bewirkt (s. auch R 2/15 vom 21. Oktober 2015 date: 2015-10-21, T 1627/09 vom 14. September 2018 date: 2018-09-14). Die Selbstablehnung setzt lediglich das Verfahren nach Art. 24 (4) EPÜ 1973 in Gang, ohne die zu treffende Entscheidung vorwegzunehmen. Würde das betreffende Mitglied durch die Selbstablehnung unmittelbar und automatisch ausgeschlossen, so würde das im Europäischen Patentübereinkommen vorgesehene formelle Recht der Beteiligten auf eine Anhörung vor den ordnungsgemäß bestimmten Kammermitgliedern verletzt. Die Kammer stellte fest, dass die von einem Kammermitglied in einer Selbstablehnungserklärung angegebenen Gründe für eine mögliche Befangenheit durch die Entscheidung in der Regel respektiert werden sollten. Es kann erwartet werden, dass das Mitglied, das sich selbst aufgrund bestimmter Tatsachen für befangen erklärt, am besten weiß, ob eine mögliche Besorgnis der Befangenheit entstehen könnte. Die Öffentlichkeit oder ein Betroffener sollte nicht Befangenheit vermuten, nachdem eine Beschwerdekammer entschieden hat, dass es dafür keinen Grund gibt (s. auch T 584/09 vom 1. März 2013 date: 2013-03-01).
In R 2/15 vom 21. Oktober 2015 date: 2015-10-21 befand die Große Beschwerdekammer, dass im Falle einer Ablehnung durch einen Verfahrensbeteiligten nach Art. 24 (3) Satz 1 EPÜ (s. dieses Kapitel III.J.2.3.) festgestellt werden muss, dass eine subjektive Befangenheit oder zumindest der Anschein einer (objektiven) Befangenheit gegeben ist. Im Falle einer Selbstablehnung genüge es dagegen, wenn der Anschein einer Befangenheit unter den vorliegenden Umständen zumindest fraglich ist.
In T 1627/09 vom 14. September 2018 date: 2018-09-14 akzeptierte die Kammer die gemäß Art. 24 (2) EPÜ mitgeteilte Selbstablehnung sowohl des Vorsitzenden als auch des rechtskundigen Mitglieds der Kammer. Beide hatten an der Entscheidung T 1627/09 vom 10. Oktober 2013 date: 2013-10-10 mitgewirkt (die durch R 2/14 vom 22. April 2016 date: 2016-04-22 mit der Anordnung, das Verfahren wiederaufzunehmen, aufgehoben wurde) und vertraten die Auffassung, dass sie als Mitglieder der Kammer ein zweites Mal über dieselben Fragen zu entscheiden hätten, wenn sie Mitglieder der Kammer blieben. Die Kammer verwies auf die vorstehend in diesem Kapitel erwähnte Rechtsprechung der Beschwerdekammern und erklärte, dass dies mit Art. 6 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 47 (2) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) im Einklang stehe, die beide von der Kammer als verbindlich anerkannt werden. Die Kammer verwies auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 (1) EMRK, wonach eine Selbstablehnung nur unter ganz besonderen Umständen nicht zu einem Ersatz führen soll (vgl. u. a. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Rudnichenko v. Ukraine, 2775/07). Als Beispiel für eine nationale Rechtsprechung in diesem Sinne nannte die Kammer die Entscheidung des Österreichischen Obersten Gerichtshofs 4 Ob 186/11y EFSlg 131.987.