7.2. Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei einer medizinischen Verwendung – Plausibilität
Nachstehend wird sowohl auf Grundsatzentscheidungen als auch auf spezifische spätere Entscheidungen eingegangen, in denen die anwendbaren Grundsätze aufgegriffen und zusammengefasst werden.
Die Beschwerdekammern haben festgestellt, dass im Zusammenhang mit dem Erfordernis der ausreichenden Offenbarung besonderes Augenmerk auf funktionelle Merkmale zu richten ist, denn diese werden durch eine Wirkung definiert, die erzielbar sein muss (s. G 1/03, Nr. 2.5.2 der Gründe, angeführt in T 2015/20).
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern wird die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung als funktionelles technisches Merkmal solcher Ansprüche angesehen. Um dem Erfordernis der ausreichenden Offenbarung des Art. 83 EPÜ gerecht zu werden, muss die therapeutische Wirksamkeit der Zusammensetzung und Dosierung für die beanspruchte therapeutische Indikation daher glaubwürdig sein. (Verweis auf diesen Grundsatz z. B. in T 421/14 (Dosierungsanleitung für zweimal tägliche Behandlung – Multiple Sklerose, bei der sich die Ansprüche auf eine weitere medizinische Verwendung beziehen).
In T 1959/15 werden auch die einschlägigen Konzepte und Begründungen ausgeführt (Nr. 4.2 der Gründe): Der erteilte Anspruch 1 bezog sich auf eine zweite medizinische Verwendung und war als zweckgebundener Erzeugnisanspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ formuliert. Nach Art. 54 (5) EPÜ ist die Patentierbarkeit von Stoffen oder Stoffgemischen, die zum Stand der Technik gehören, zur spezifischen Anwendung in einem in Art. 53 c) EPÜ genannten Verfahren nicht ausgeschlossen, wenn diese Verwendung nicht zum Stand der Technik gehört. Wenn eine technische Wirkung (bei einem Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung die therapeutische Wirkung) ein Merkmal eines Anspruchs ist, ist es eine Frage der ausreichenden Offenbarung, ob diese Wirkung durch im Wesentlichen alle vom Anspruch umfassten Ausführungsformen erzielt wird. Da sich der Gegenstand von Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung in der Regel auf ein bekanntes therapeutisches Mittel zur Verwendung in einer neuen therapeutischen Anwendung beschränkt, muss das Patent also normalerweise nur plausibel machen, dass das bekannte therapeutische Mittel (d. h. das Erzeugnis) für die beanspruchte therapeutische Anwendung (d. h. den Zweck: die technische Wirkung) geeignet ist.
Wie in T 1868/16 auch festgestellt wurde, muss nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Anmeldung gemäß Art. 83 EPÜ offenbaren, dass das herzustellende Erzeugnis sich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, wenn dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist (s. T 609/02, Nr. 9 der Gründe; T 433/05, Nr. 28 der Gründe; T 801/06, Nr. 25 der Gründe). Klinische Daten sind nicht immer erforderlich. Rein verbale Erklärungen sind jedoch nicht ausreichend. Die Patentanmeldung muss einige Informationen zum Beispiel in Form von Versuchen enthalten, aus denen hervorgeht, dass sich die beanspruchte Verbindung unmittelbar auf einen Stoffwechselvorgang auswirkt, der speziell an der betreffenden Krankheit beteiligt ist. Gegebenenfalls können In-vitro-Beispiele ausreichend sein, wenn sie für den Fachmann unmittelbar und zweifelsfrei die Wirkung der therapeutischen Verwendung belegen. Nachträglich veröffentlichte Beweisstücke (post-published evidence) können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie die in der Anmeldung enthaltenen Feststellungen stützen (s. T 609/02, Nr. 9 der Gründe).
In T 609/02 wurde nämlich festgestellt: Wird eine therapeutische Anwendung in der von der Großen Beschwerdekammer in G 1/83 (ABl. 1985, 60) zugelassenen Form beansprucht, d. h. als Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung, so ist die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung als funktionelles Merkmal des Anspruchs zu betrachten (s. G 2/88 (ABl. 1990, 93) sowie für nichtmedizinische Anwendungen G 6/88 (ABl. 1990, 114)). Folglich muss die Anmeldung nach Art. 83 EPÜ offenbaren, dass das herzustellende Erzeugnis sich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, wenn dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist (synthetische Formulierung des Beitrags dieser Entscheidungen, was die beanspruchte therapeutische Wirksamkeit betrifft, auf die beispielsweise verwiesen wird in T 2571/12, Nr. 5.2 der Gründe, T 1437/07 unten, Nr. 37 der Gründe, T 421/14, Nr. 2.3 der Gründe, und z. B. auch T 2015/20 mit sehr lehrreichen und detaillierten Ausführungen zu dieser Frage, T 395/18, Nr. 4.3 der Gründe, und T 899/14, Nrn. 2.4 und 2.5 der Gründe). In Entscheidungen wie T 2181/08, T 338/10, T 1685/10, T 943/13 und T 2059/13 wurde die Argumentation aus T 433/05 und T 609/02 aufgegriffen und auf den jeweiligen Einzelfall angewendet.
Die Kammer in T 814/12 stellte fest, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ein Anspruch auf eine medizinische Verwendung nur dann die Erfordernisse von Art. 83 EPÜ erfüllt, wenn das Patent offenbart, dass sich das herzustellende Erzeugnis für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, sofern dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist. Eine beanspruchte therapeutische Anwendung kann durch jede Art von Beweismittel nachgewiesen werden, sofern dieses die therapeutische Wirkung belegt, auf der die therapeutische Anwendung beruht (T 814/12 unter Verweis insbesondere auf T 609/02). In der Sache T 814/12 kam die Kammer zu dem Schluss, dass in Analogie die gleichen Erfordernisse von Art. 83 EPÜ auch für Ansprüche auf eine diagnostische Verwendung gelten.
Die Kammer in T 895/13 vom 21. Mai 2015 date: 2015-05-21 erklärte, dass die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung laut T 609/02 ein funktionelles technisches Merkmal eines in der schweizerischen Anspruchsform abgefassten Anspruchs sei. Dieser Grundsatz gelte ihrer Auffassung nach auch für zweckgebundene Erzeugnisansprüche gemäß Art. 54 (5) EPÜ. Folglich sei die durch den Anspruchsgegenstand hervorgerufene therapeutische Wirkung nicht – wie in der angefochtenen Entscheidung – im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit, sondern im Rahmen der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ) zu prüfen (s. G 1/03, Nr. 2.5.2 der Gründe).