5.1. Zulässigkeit der Änderungen
R. 43 (2) EPÜ (R. 29 (2) EPÜ 1973) besagt, dass eine europäische Patentanmeldung nicht mehr als einen unabhängigen Anspruch in der gleichen Kategorie enthalten darf, es sei denn, diese beziehen sich auf i) mehrere miteinander in Beziehung stehende Erzeugnisse oder ii) verschiedene Verwendungen eines Erzeugnisses oder einer Vorrichtung oder iii) Alternativlösungen für eine bestimmte Aufgabe, die nicht zweckmäßigerweise in einem einzigen Anspruch wiedergegeben werden können.
Der Geltungsbereich und somit eine mögliche Anwendung der R. 43 (2) EPÜ im Einspruchsverfahren wird in T 263/05 (ABl. 2008, 329) untersucht. Nachdem die Kammer den Zweck und die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschrift in Betracht zieht, kommt sie zu dem Schluss, diese Regel könne nicht durchgängig für alle Änderungen im Einspruchsverfahren gelten. Ansonsten wäre nämlich jede Änderung unzulässig, durch die nicht einheitliche Ansprüche eingeführt werden, was im Einspruchsverfahren nicht nur zulässig ist, sondern auch absolut zweckmäßig sein kann, weil der Patentinhaber die Anmeldung nicht mehr teilen kann. So würde der Schluss, dass R. 43 (2) EPÜ im Einspruchsverfahren ausnahmslos anzuwenden ist, G 1/91 (ABl. 1992, 253) wirklich aufweichen. R. 43 (2) EPÜ ist im Einspruchsverfahren nicht anwendbar, um die Änderung eines erteilten Patents zu verbieten, wenn von den geänderten Ansprüchen nicht sinnvollerweise gefordert werden kann, dass sie dieser Regel genügen. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn R. 43 (2) EPÜ den Patentinhaber anderenfalls zwingen würde, einen potenziell zulässigen Gegenstand aufzugeben, der in den Ansprüchen in der erteilten Fassung bereits enthalten war. Es sind keine Umstände vorgesehen, unter denen R. 43 (2) EPÜ im Einspruchsverfahren in irgendeiner Weise anwendbar wäre. Ist eine Änderung der Ansprüche angesichts der Einspruchsgründe für notwendig und zweckmäßig befunden worden, so wäre es unsinnig, das zusätzliche Erfordernis aufzustellen, dass die Änderung der bloßen Ordnungsvorschrift der R. 43 (2) EPÜ genügen muss.
In T 830/11 bestätigte die Kammer, dass die Bedingung der Knappheit in Art. 84 EPÜ 1973 und die Bestimmungen von R. 29 (2) EPÜ 1973 (R. 43 (2) EPÜ) im Einspruchsverfahren im Lichte von G 1/91, Nr. 4.2 der Gründe auszulegen sind. R. 29 (2) EPÜ 1973 (R. 43 (2) EPÜ) sollte der Verteidigung des Patents in allen seinen Bestandteilen nicht entgegenstehen (vgl. T 263/05 und T 1416/04). Die Kammer hob hervor, dass sie nicht die generelle Anwendbarkeit von Art. 84 EPÜ 1973 (Knappheit) und von R. 29 (2) EPÜ 1973 (R. 43 (2) EPÜ) im Einspruchsverfahren infrage stelle. Sie sei nur der Auffassung, dass diese Vorschriften nicht für Anspruchssätze gälten, deren Gegenstand bereits im Patent in der erteilten Fassung beansprucht wurde.
Nach Auffassung der Kammer in T 1416/04 kann ein Antrag, der eine Vielzahl von unabhängigen Erzeugnisansprüchen enthält, nach R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) zur Änderung eines erteilten Anspruchssatzes mit nur einem einzigen unabhängigen Erzeugnisanspruch gewährbar sein, wenn die geänderten unabhängigen Ansprüche sich aus der Streichung früherer Ansprüche ergeben. Was die Form der Ansprüche betreffe, müsse im vorliegenden Fall nicht entschieden werden, ob R. 43 (2) EPÜ auf Einspruchsverfahren anwendbar sei oder nicht: Selbst wenn man R. 43 (2) EPÜ als anwendbar ansehe, könne der Gegenstand der erteilten Ansprüche nicht angemessen mit einem einzigen unabhängigen Anspruch abgedeckt werden, sodass diese Regel auf jeden Fall erfüllt sei. Zur Einreichung neuer unabhängiger Ansprüche siehe auch Kapitel IV.C.5.1.2 c) ii).