6. Vertrauensschutz und Rechtsprechung
In drei Entscheidungen gelangte die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass diese Entscheidungen, die eine Abkehr von der früheren Rechtsprechung bedeuten, erst dann angewandt werden, wenn sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind (G 5/88, ABl. 1991, 137, betreffend eine Verwaltungsvereinbarung; G 5/93, ABl. 1994, 447, betreffend die Möglichkeit für Euro-PCT Anmelder, wieder in die Frist zur Zahlung der in R. 104b EPÜ 1973 vorgesehenen nationalen Gebühr eingesetzt zu werden; und G 9/93, ABl. 1994, 891, wonach ein Patentinhaber nicht gegen sein eigenes europäisches Patent Einspruch einlegen kann, in Abkehr von G 1/84). Diese drei Entscheidungen begründen jedoch nicht eine allgemeine Regel, der zufolge neue Rechtsprechung niemals "rückwirkend" angewandt werden dürfe (J 8/00).
In T 716/91 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass die Entscheidung G 4/93 (die der Entscheidung G 9/92 date: 1994-07-14, ABl. 1994, 875 entspricht) auch auf anhängige Verfahren anzuwenden war. Der vorliegende Sachverhalt war anders gelagert als in G 9/93, wo die Große Beschwerdekammer festgestellt hatte, dass es unbillig wäre, das nach G 9/93 ausgelegte Recht auf anhängige Fälle anzuwenden. Die Kammer hob hervor, dass der Entscheidung G 4/93 bezüglich der Anwendbarkeit der in ihr festgeschriebenen Rechtsauslegung auf bereits anhängige Verfahren keine Einschränkungen zu entnehmen seien.
In T 739/05 sah die Kammer keinen Grund, das Verfahren auszusetzen und die Endentscheidung aufzuschieben, bis die Große Beschwerdekammer über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden habe, die für den vorliegenden Fall von Bedeutung sein könnte. Die Kammer war der Auffassung, dass die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer wegen des Grundsatzes des Vertrauensschutzes bei anhängigen Verfahren den Ausgang des Falles nicht beeinflussen könne. Wenn die in Veröffentlichungen des Europäischen Patentamts festgeschriebene bestehende langjährige Praxis durch eine neue Entscheidung aufgehoben wird, gesteht die ständige Rechtsprechung (G 5/93, G 9/93, T 905/90, J 27/94, J 25/95) den Anmeldern in anhängigen Verfahren eine Übergangszeit zu, in der sie sich auf die bisherige Praxis berufen können, bis die ändernde Entscheidung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
In G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) heißt es, dass zur Wahrung der Rechtssicherheit und zum Schutz der berechtigten Interessen der Anmelder die von der Großen Beschwerdekammer in dieser Entscheidung vorgenommene Auslegung des Gesetzes deshalb keine Rückwirkung haben sollte; es wurde eine angemessene Frist von drei Monaten nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung im Amtsblatt des EPA vorgesehen, damit künftige Anmeldungen dieser neuen Situation gerecht werden können. Mit derselben Begründung stellte die Große Beschwerdekammer in G 3/19 (ABl. 2020, A119 – s. Nr. XXIX der Gründe) klar, dass die in dieser Stellungnahme getroffene neue Auslegung des Art. 53 b) EPÜ keine Rückwirkung entfaltet für europäische Patente mit derartigen Ansprüchen, die vor Inkrafttreten der R. 28 (2) EPÜ am 1. Juli 2017 erteilt wurden, oder für vor diesem Tag eingereichte und noch anhängige europäische Patentanmeldungen, in denen Schutz für derartige Ansprüche begehrt wird.
In G 2/07 und G 1/08 (ABl. 2012, 130 und 206) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass sie in der Vergangenheit eine Übergangsfrist eingeräumt habe, wenn sie durch ihre Entscheidung eine Änderung der ständigen Verfahrenspraxis herbeigeführt hat, mit der die Verfahrensbeteiligten nicht rechnen konnten. Es sei aber niemals Vertrauensschutz in Angelegenheiten gewährt worden, bei denen die Große Kammer über die richtige Anwendung, d. h. die Auslegung des materiellen Patentrechts zu befinden hatte.