5.13.6 Offenkundige Vorbenutzung
Schon in der frühen Rechtsprechung haben die Beschwerdekammern bei der Zulassung von verspätet geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzungen durch den Einsprechenden strenge Maßstäbe angelegt. Gestützt auf Art. 114 (2) EPÜ 1973 haben sie das verspätet vorgebrachte Beweismaterial nicht in das Verfahren einbezogen, weil unter den konkreten Umständen ein Verfahrensmissbrauch und ein Verstoß gegen den Grundsatz des guten Glaubens vorlagen. Bei diesem Sachverhalt haben die Beschwerdekammern davon abgesehen, die mögliche Relevanz des Vorbringens zu untersuchen (s. T 17/91; T 534/89, ABl. 1994, 464 und T 211/90). In T 985/91 vertrat die Kammer unter Berufung auf die Entscheidung T 17/91 die Auffassung, dass verspätet eingereichte Unterlagen nur unter besonderen Umständen zum Verfahren zugelassen werden sollten, wenn sie sich auf eine angebliche Vorbenutzung bezögen.
In T 17/91 wurde zwei Jahre nach Ablauf der Einspruchsfrist eine eigene offenkundige Vorbenutzung durch den Einsprechenden selbst geltend gemacht, ohne dass gute Gründe für die Verzögerung bestanden hätten. Die Beschwerdekammer sah hierin einen Verfahrensmissbrauch und einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Daher ließ sie die behauptete offenkundige Vorbenutzung gemäß Art. 114 (2) EPÜ 1973 ungeachtet ihrer möglichen Relevanz außer Acht.
Auch in T 534/89 (ABl. 1994, 464) stellte die Kammer fest, dass ein Verfahrensmissbrauch vorliegt, wenn ein Einwand wegen Vorbenutzung durch den Einsprechenden selbst erst nach Ablauf der Einspruchsfrist erhoben wird, obwohl der Sachverhalt dem Einsprechenden bekannt war.
In T 691/12 wies die Kammer darauf hin, dass eine erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachte Vorbenutzung nur dann noch eingeführt und als Stand der Technik berücksichtigt werden kann, wenn zumindest die folgenden drei Bedingungen erfüllt werden: a) Es darf sich nicht um einen erkennbaren Verfahrensmissbrauch handeln, b) die Vorbenutzung muss prima facie so relevant sein, dass sie wie vorgebracht die Gültigkeit des Patents infrage stellt; und c) die Vorbenutzung muss lückenlos nachgewiesen sein, sodass keine weiteren Ermittlungen zur Feststellung ihres Gegenstands bzw. ihrer Umstände notwendig sind. Diese drei Bedingungen waren hier nicht erfüllt (s. auch T 1847/12, T 63/13).
In T 2393/13 entschied die Kammer die unsubstantiierte behauptete Vorbenutzung nicht zu berücksichtigen. Art. 12 (4) VOBK 2007 verlangt nicht nur, dass Tatsachen und Beweismittel zum geeigneten Zeitpunkt eingereicht werden, sondern auch, dass sie die Erfordernisse nach Art. 12 (2) VOBK 2007 erfüllen, d.h. in diesem Fall vollständig sein müssen. S. auch T 380/00 (nicht ausreichend substantiierte Behauptung einer nicht vertraulichen Offenbarung in einem Bewerbungsgespräch).
In T 481/99 stellte die Kammer fest, dass der Grundsatz, dem zufolge die Einspruchsabteilung verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nur in Ausnahmefällen im Verfahren zulassen sollte (s. z. B. G 9/91, ABl. 1993, 408; T 1002/92, ABl. 1995, 605), nicht bedeute, dass ein verspätet vorgebrachter Einwand der Vorbenutzung, der relevant ist, wenn er sich belegen lässt, automatisch außer Acht zu lassen wäre, weil neue Tatsachen zunächst durch eine Beweisaufnahme festgestellt werden müssten. Wenn die im Zusammenhang mit dem verspäteten Einwand der Vorbenutzung vorgebrachten Ausführungen und/oder Dokumente jedoch unstimmig oder gar widersprüchlich seien, könne der Spruchkörper die Behauptung der Vorbenutzung nach Art. 114 (2) EPÜ 1973 unberücksichtigt lassen, ohne sie eingehender zu prüfen.
Zu den im Laufe des Beschwerdeverfahrens vorgelegten Unterlagen, die eine Vorbenutzung betrafen, urteilte die Kammer in T 508/00, dass mangelhafte Kommunikation innerhalb eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe keinen hinreichenden und annehmbaren Grund bildet, die verspätete Vorlage von Beweisen für eine mutmaßliche Vorbenutzung zuzulassen (s. auch T 443/09).
Ebensowenig wurde in T 1914/08 eine zwischenzeitlich angespannte wirtschaftliche Lage des Beteiligten als Rechtfertigungsgrund für späte Einreichen bereits früher angekündigter, und damit verfügbarer, Unterlagen anerkannt.
In T 450/13 stellte die Kammer fest, dass die unterbliebene Substantiierung einer behaupteten offenkundigen Vorbenutzung im Einspruchsverfahren und der spätere Versuch einer Substantiierung in der Beschwerdebegründung die Unzulässigkeit dieses Angriffs nach Art. 12 (4) VOBK 2007 zur Folge haben kann.
Auch in den folgenden Entscheidungen wurden die behaupteten offenkundigen Vorbenutzungen, die erst im Beschwerdeverfahren eingereicht wurden, nicht berücksichtigt (T 444/09, T 12/11, T 1835/11, T 1295/12, T 1841/14 und T 2361/15).