3.5. Weitere Kriterien zur Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik
Grundsätzlich kommt jedes Dokument, das nach Art. 54 (2) EPÜ zum Stand der Technik gehört, ohne zeitliche Beschränkung als nächstliegender Stand der Technik infrage. In der Rechtsprechung wird allerdings eingeräumt, dass es Fälle gibt, in denen ein Dokument unter Umständen kein realistischer Ausgangspunkt ist, weil es sich auf eine veraltete Technologie bezieht und/oder mit so bekannten Nachteilen verbunden ist, dass es der Fachmann nicht einmal in Erwägung ziehen würde, sich um eine Verbesserung zu bemühen.
In T 69/94 wies die Kammer darauf hin, dass Art. 54 (2) EPÜ 1973 ganz eindeutig ohne jede zeitliche Einschränkung bestimmt, dass der Stand der Technik alles umfasst, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Daher kann ein Dokument, das sich weder auf eine veraltete, in der Industrie nicht mehr gebräuchliche Technologie bezieht noch eine am Anmeldetag des Streitpatents von der Fachwelt verworfene Lehre enthält, nicht als nächstliegender Stand der Technik außer Acht bleiben, nur weil es rund 20 Jahre vor dem Anmeldetag der Anmeldungsunterlagen veröffentlicht wurde. In T 1408/04 stellte die Kammer jedoch fest, dass das Alter eines Dokuments als solches kein Grund ist, dieses Dokument als nächsten Stand der Technik und Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auszuschließen (s. auch T 153/97).
In T 334/92 vertrat die Kammer die Auffassung, dass ein Dokument, das von den Fachleuten mehr als 20 Jahre lang ignoriert und in dieser Zeit keiner einzigen Weiterentwicklung zugrunde gelegt wurde, das keinerlei Angaben über das Ausmaß der versprochenen Aktivität enthält und den einschlägigen Stand der Technik nicht einmal erwähnt, geschweige denn auf ihn eingeht nicht den nächstliegenden Stand der Technik darstellt und somit nicht zur Formulierung einer technisch realistischen Aufgabe herangezogen werden kann. In T 964/92, die als Teilanmeldung zu T 334/92 eingereicht worden war, kam die Beschwerdekammer hingegen zu dem Ergebnis, dass dasselbe Dokument sehr wohl als realistischer Ausgangspunkt für die Ermittlung der zugrunde liegenden technischen Aufgabe betrachtet werden könne.
In T 1000/92 war die Kammer mit der Wahl des Dokuments 1 als nächstliegenden Stand der Technik nicht einverstanden, weil die Nachteile des Verfahrens, das rund 30 Jahre vor dem Prioritätstag der Anmeldung veröffentlicht wurde, so offenkundig und bekannt waren, dass ein Fachmann nicht versucht hätte, ein so altes Verfahren zu verbessern und weiterzuentwickeln (s. auch T 616/93).
In T 479/00 sah die Kammer ein 65 Jahre altes Dokument nicht als realistischen Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit an. Es sei unrealistisch, davon auszugehen, dass ein Durchschnittsfachmann auf dem Gebiet der Färbung keramischer Produkte im Jahr 1994 ohne nachträgliche Erkenntnisse beabsichtigt hätte, eine Technik zu verbessern, die in den vorangegangenen 65 Jahren nicht beachtet worden sei. Zudem sei die Lehre dieses 1929 veröffentlichten Dokuments niemals gewerblich genutzt worden.
In T 113/00 erklärte die Beschwerdekammer, dass das Aufgreifen einer sehr alten Lehre (in der vorliegenden Sache 31 Jahre) mit einer naheliegenden Veränderung einen bekannten Gegenstand nicht erfinderisch macht. In T 1397/07 fügte die Kammer hinzu, dass es im EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür gibt, einen bestimmten Stand der Technik bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nur deshalb außer Betracht zu lassen, weil er einige Jahre früher als ein anderer veröffentlicht worden ist.