E. Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit nach Artikel 57 EPÜ
Nach R. 42 (1) f) EPÜ (früher R. 27 (1) f) EPÜ 1973) ist in der Beschreibung, "wenn es sich aus der Beschreibung oder der Art der Erfindung nicht offensichtlich ergibt, ausdrücklich anzugeben, in welcher Weise der Gegenstand der Erfindung gewerblich anwendbar ist".
In T 1452/06 hielt die Kammer als ein Grundprinzip des Patentsystems fest, dass ausschließliche Rechte nur als Gegenleistung für eine vollständige Offenbarung der Erfindung gewährt werden können, wobei auch anzugeben ist, wie die Erfindung verwertet werden kann (Art. 57 EPÜ 1973). Diese Angabe muss sich auf eine "solide und konkrete technische Grundlage" stützen, weil ein "spekulativer Hinweis auf mögliche Ziele, die anhand von weiteren Forschungsarbeiten mit dem beschriebenen Werkzeug erreicht werden könnten oder auch nicht, nicht ausreicht, um das Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit zu erfüllen" (s. T 898/05, T 870/04 und T 1109/10).
In T 898/05 befand die Kammer, dass eine beanspruchte Erfindung für die Zwecke des Art. 57 EPÜ 1973 eine so solide und konkrete technische Grundlage haben muss, dass für den Fachmann ersichtlich ist, dass ihr Beitrag zum Stand der Technik in eine praktische gewerbliche Verwertung münden kann. Die Kammer führte aus, dass die gewerbliche Anwendbarkeit einerseits so breit auszulegen ist, dass sie jeden "unmittelbaren konkreten Nutzen" umfasst, dass andererseits aber auch in eindeutigen technischen Begriffen offenbart werden muss, welchen Zweck die Erfindung erfüllt und wie sie in der Praxis gewerblich genutzt werden kann, um ein bestimmtes technisches Problem zu lösen, worin der eigentliche Nutzen oder Vorteil der Verwertung der Erfindung besteht. Es muss zumindest die Aussicht auf eine reale – im Gegensatz zu einer rein theoretischen – Verwertungsmöglichkeit bestehen, wenn diese nicht schon aufgrund der Art der Erfindung oder des Stands der Technik auf der Hand liegt. Es darf nicht dem fachmännischen Leser überlassen werden, durch Durchführung eines Forschungsprogramms herauszufinden, wie sich die Erfindung verwerten lässt.
Dementsprechend kann es sein, dass ein Erzeugnis, dessen Struktur zwar angegeben wird (beispielsweise eine Nukleinsäuresequenz), dessen Funktion aber ungewiss, unklar oder nur angedeutet ist, das genannte Kriterium nicht erfüllt, obwohl sich seine Struktur an sich reproduzieren (herstellen) lässt (s. T 870/04). Eine Patenterteilung könnte in diesem Fall die weitere Forschung auf diesem Gebiet verhindern. Andererseits könnte bei einem Erzeugnis, das eindeutig beschrieben und dessen mögliche Verwendung – etwa zur Heilung einer seltenen Krankheit – plausibel gemacht wird, davon ausgegangen werden, dass es eine gewinnbringende Verwendung oder einen konkreten Nutzen hat, unabhängig davon, ob es tatsächlich in irgendeiner Weise kommerziell verwertet werden soll.
In T 1450/07 bezog sich die Kammer auf die in T 898/05 aufgestellten Grundsätze, dass eine gewerbliche Anwendbarkeit vorliegt, wenn die Offenbarung der Funktion eines beanspruchten Stoffes in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung i) dem Fachmann glaubhaft erscheint, ii) später durch nachveröffentlichte Beweismittel bestätigt wird und iii) eine eindeutige Stütze für eine gewerbliche Anwendbarkeit liefert.
In T 870/04 stellte die Kammer fest, dass eine "praktische" Anwendung der Erfindung offenbart werden müsse. Die bloße Tatsache, dass ein Stoff auf irgendeine Weise hergestellt werden könne, bedeute nicht unbedingt, dass dieses Erfordernis erfüllt sei, wenn nicht außerdem eine gewinnbringende Einsatzmöglichkeit für diesen Stoff existiere.
Die Kammer wies darauf hin, dass biotechnologische Erfindungen relativ häufig natürlich vorkommende Stoffe betreffen (z. B. ein Protein, eine DNA-Sequenz usw.). Sei die grundlegende Bedeutung einer Funktion für die menschliche Gesundheit allgemein bekannt, so lege die Identifizierung eines Stoffs, der diese Funktion erfülle, eine praktische Anwendung bei einer Krankheit bzw. einem pathologischen Zustand, die auf einen Mangel an diesem Stoff zurückzuführen seien, unmittelbar nahe, wie etwa bei Insulin, dem menschlichen Wachstumshormon oder Erythropoietin. In derartigen Fällen werde durch eine geeignete Beschreibung gewährleistet, dass "die Erfindung gewerblich hergestellt oder benutzt werden kann". Werde ein im menschlichen Körper natürlicherweise vorkommender Stoff zwar identifiziert und womöglich auch strukturell beschrieben und auf irgendeine Weise verfügbar gemacht, sei seine Funktion jedoch entweder nicht bekannt oder zu komplex und werde nicht vollständig verstanden, und könne bisher keine Krankheit und kein pathologischer Zustand speziell auf einen Überschuss oder einen Mangel an diesem Stoff zurückgeführt werden, und werde für diesen Stoff auch keine andere praktische Verwendung vorgeschlagen, so könne gewerbliche Anwendbarkeit nicht anerkannt werden. Forschungsergebnisse könnten eine überaus verdienstvolle wissenschaftliche Leistung darstellen, ohne zwangsläufig eine gewerblich nutzbare Erfindung zu sein.
In T 338/00 und T 604/04 erklärten die Kammern die Erfindungen trotz fehlender konkreter Versuchsdaten für gewerblich anwendbar, weil eine gewinnbringende Nutzung auf der Grundlage der Beschreibung unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens leicht erkennbar war. So wird über jeden Einzelfall anhand der besonderen technischen Umstände entschieden, die auch den Umfang der Offenbarung, den Stand der Technik und nachveröffentlichte Beweismittel umfassen.
In T 641/05 befand die Kammer, dass weder aus der Anmeldung selbst noch aus dem aktenkundigen Stand der Technik unmittelbar konkrete Angaben zur Funktion des CEGPCR1a-Klons abgeleitet werden konnten, und zwar auf keiner der drei besonderen Funktionsebenen aus T 898/05, nämlich der Ebene der molekularen, der zellularen und der biologischen Funktion im weiteren Sinne (Ligandbindung, Weiterleitung eines Transmembran-Signals, Rolle im Rahmen eines Signaltransduktionwegs und/oder einem Netzwerk miteinander verknüpfter Signalwege eines vielzelligen Organismus). Zwar war die Kammer bereit, unter bestimmten Voraussetzungen der in T 898/05 angewandten fallweisen Vorgehensweise zu folgen und eine etwaige auf computergestützten Methoden basierende Funktion anzuerkennen, jedoch fehlte es diesen (Sequenzhomologie-)Methoden im vorliegenden Fall gänzlich an Beweiskraft. Da diese funktionalen Informationen fehlten, konnte für den in der Anmeldung offenbarten CEGPCR1a-Klon nur kein "unmittelbarer konkreter Nutzen" im Sinne der Entscheidung T 898/05 erkannt werden.
In T 1452/06 führte die Kammer aus, dass alle therapeutischen Anwendungen des beanspruchten Gegenstands auf der prognostizierten Rolle der angeblichen Serinprotease-Aktivität des Polypeptids der Sequenz SEQ ID Nr. 24 bei der Degradation der extrazellulären Matrix beruhten. Die Anmeldung enthielt keinerlei experimentelle Nachweise für die Serinprotease-Aktivität eines Polypeptids mit der Aminosäuresequenz SEQ ID Nr. 24 und offenbarte weder ein Beispiel für eine solche Serinprotease-Aktivität noch Nachweise dafür, dass die auf dieser Serinprotease-Aktivität basierenden Screening-Verfahren und therapeutischen Anwendungen tatsächlich mit einem Polypeptid der Sequenz SEQ ID Nr. 24 verwirklicht werden können. Die einzige Verwendung für ein Polypeptid der Sequenz SEQ ID Nr. 24 bestehe darin, mehr über das Polypeptid selbst und seine natürliche(n) Funktion(en) herauszufinden, was ein spekulatives Ergebnis und somit keinen "unmittelbaren konkreten Nutzen" darstelle (T 898/05, T 870/04).