2.7. Rechtliches Gehör bei Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung
In T 341/92 (ABl. 1995, 373) entschied die Beschwerdekammer, dass die Stützung einer Entscheidung auf einen erstmals in der mündlichen Verhandlung erörterten Grund jedenfalls dann zulässig ist, wenn die Erörterung der Frage für den ordnungsgemäß geladenen, aber abwesenden Patentinhaber nach dem Stand des Verfahrens zu erwarten war und ihm die tatsächlichen Grundlagen für ihre Beurteilung bekannt waren. Die Kammer sah sich nicht aus verfahrensrechtlichen Gründen daran gehindert, eine Entscheidung auf Art. 123 (3) EPÜ zu stützen, wenn die Frage erstmals in der mündlichen Verhandlung von der Kammer vorgebracht wurde. Sie wies darauf hin, dass eine Situation wie in G 4/92 in diesem Verfahren nicht vorlag, da sich die beanstandete Erweiterung des Schutzbereichs allein aus dem Vergleich der Anspruchsfassung, mithin nicht aus einem Sachverhalt, der erst in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt worden war, ergab.
In T 802/12 wies die Kammer die Beschwerde ebenfalls auf Grundlage des erstmals in der mündlichen Verhandlung erörterten Art. 123(3) EPÜ zurück. Die Kammer verwies auf T 341/92 und ergänzte, dass der Beschwerdeführer erwarten konnte, dass seine Änderungen in der mündlichen Verhandlung auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ geprüft würden (G 9/91 ABl. 1993, 408). Darüber hinaus könne ein ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladener Beteiligter nicht darauf vertrauen, dass das Verfahren schriftlich fortgesetzt oder die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen wird, nur weil er nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist (Art. 15 (3) und (6) VOBK 2020; s. in diesem Kapitel III.B.2.7.3 "Nichterscheinen in der mündlichen Verhandlung vor den Kammern – Artikel 15 (3) VOBK 2020").
Im Verfahren T 133/92 entschied die Kammer, dass es der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer in G 4/92 nicht widerspreche, wenn über die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage von Ansprüchen beraten und entschieden werde, die in der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des Beschwerdeführers (Einsprechenden) geändert worden seien. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdegegner (Patentinhaber) durch die Beschränkung der Ansprüche Einwände ausgeräumt habe, die bereits der Beschwerdeführer erhoben hatte. In einem solchen Fall könne der Beschwerdeführer nicht überrascht worden sein, da er damit habe rechnen müssen, dass der Beschwerdegegner versuchen würde, alle Einwände zu entkräften. Die Vorlage von Hilfsanträgen sei eindeutig kein "Sachverhalt" im Sinne der Entscheidung G 4/92 (s. auch T 771/92, in der die Kammer befand, dass die Vorlage beschränkter Ansprüche weder ein Sachverhalt noch ein Beweismittel sei). Auch in den Verfahren T 912/91, T 202/92, T 856/92, T 890/92, (s. auch T 673/06 und T 235/08), denen ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag, gelangte die Kammer zu dem Ergebnis, dass Art. 113 (1) EPÜ entsprochen worden sei.
In T 1448/09 wurde die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung mit dem allgemeinen Fachwissen begründet, wie es aus D3 hervorging. Der Einwand war erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erhoben worden, an der der Beschwerdeführer nicht teilnahm. Gemäß G 4/92 können Argumente zwar jederzeit vorgebracht werden, so auch während der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten, doch gilt dies nicht für neue Fakten, die für die Entscheidung maßgeblich sind. Eine Bezugnahme auf das allgemeine Fachwissen kann als Argument vorgebracht werden, die Existenz dieses Fachwissens ist aber eine Tatfrage. Wenn die Existenz des allgemeinen Fachwissens bestritten wird, müssen die diesbezüglich relevanten Tatsachen immer festgestellt werden. Dies setzt voraus, dass der Beteiligte, dem das allgemeine Fachwissen entgegengehalten wird, Gelegenheit hatte, dieses zu bestreiten oder anzuerkennen. Im vorliegenden Fall erfuhr der Beschwerdeführer erst bei Zustellung der Entscheidung, dass die Prüfungsabteilung auf das allgemeine Fachwissen Bezug nahm und sich dabei auf das Dokument D3 stützte. Diese Vorgehensweise verletzte das Recht des Beschwerdeführers, zur Relevanz des Dokuments D3 und im weiteren Sinne zur Existenz des behaupteten allgemeinen Fachwissens gehört zu werden.
In T 1049/93 stellte die Kammer fest, dass eine Kammer weiterhin den Stand der Technik berücksichtigen kann, wenn ein ordnungsgemäß geladener Beschwerdeführer (Einsprechender) der mündlichen Verhandlung aus freien Stücken ferngeblieben ist. Die Beteiligten erhalten Gelegenheit zum rechtlichen Gehör, indem sie zur Anhörung vor der Kammer geladen werden. Entscheidet der Beschwerdegegner, von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch zu machen, ist sein Anspruch auf Gehör insoweit erschöpft, als es um Tatsachen und Argumente zur Stützung seiner Position geht. G 4/92 dürfe nicht so ausgelegt werden, dass sie die Rechte eines aus freien Stücken ferngebliebenen Beteiligten erweitert.
In T 414/94 legte die Kammer fest, dass es ein generelles Verbot zur Änderung von Anträgen in Abwesenheit eines Beteiligten von der mündlichen Verhandlung nicht gebe. Ein nicht erschienener Beteiligter (Einsprechende) müsse mit Reaktionen der Gegenseite (des Patentinhabers) im rechtlichen und faktischen Rahmen des vor der mündlichen Verhandlung dargelegten Sachverhalts sowie damit rechnen, dass unter Berücksichtigung oder auf der Grundlage dieser Reaktionen Entscheidungen getroffen werden.
In T 501/92 (ABl. 1996, 261) kam die Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass, wenn ein Beschwerdeführer (Einsprechender) während einer mündlichen Verhandlung, der der Beschwerdegegner (Patentinhaber) freiwillig ferngeblieben ist, erstmals einen neuen Grund, der sich aus dem Akteninhalt ergibt (hier das Versäumnis des Patentinhabers, einen förmlichen Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents zu stellen), für die Stattgabe der Beschwerde vorbringt, es gegen Art. 113 (1) EPÜ und die der Entscheidung G 4/92 zugrunde liegenden Grundsätze verstoßen würde, der Beschwerde mit dieser neuen Begründung stattzugeben, ohne dass sich der Beschwerdegegner vorher hierzu äußern könne.
In T 892/94 (ABl. 2000, 1) entschied die Kammer, dass ein Beteiligter, der der mündlichen Verhandlung fernbleibt, seinen in der Entscheidung G 4/92 dargelegten Anspruch auf rechtliches Gehör unter Umständen verwirken kann. Der Kammer zufolge ist die vor der mündlichen Verhandlung erfolgte Erklärung des Beschwerdegegners (Patentinhabers), sich nicht weiter am Verfahren zu beteiligen, als eindeutige Entscheidung des Beschwerdegegners auszulegen, sich seiner in Art. 113 (1) EPÜ festgelegten Rechte aus freien Stücken zu begeben und darauf zu verzichten, sich zu Einwänden, Tatsachen, Gründen oder Beweismitteln zu äußern, die vom Beschwerdeführer oder der Kammer in das Verfahren eingeführt werden und sich als maßgeblich erweisen könnten.
In T 191/98 verwies die Kammer auf die Stellungnahme G 4/92 und war der Meinung, dass der Beschwerdegegner (Patentinhaber), als er ihr sein Fernbleiben ankündigte, davon hätte ausgehen müssen, dass die Kammer über das Patent in der erteilten Fassung in der Sache entscheiden und dabei alle vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) vorgelegten Beweismittel und die darauf beruhenden Argumente berücksichtigen würde, einschließlich der Möglichkeit, dass eine Argumentation in der mündlichen Verhandlung weiterentwickelt würde.