4.2. Beispielsfälle zur Aufklärungspflicht bei leicht behebbaren Mängeln
T 2053/20 × View decision
Zusammenfassung
In T 2053/20 war unstreitig, dass die Beschwerdeführerin (Einsprechende) in der Beschwerdeschrift vom 18. Dezember 2020 und dem entsprechenden Begleitschreiben ihre Absicht zum Ausdruck gebracht hatte, die Beschwerdegebühr zu bezahlen. Die dafür eingeschlagenen Wege, nämlich der automatische Abbuchungsauftrag einerseits und die nicht im korrekten elektronischen Format erteilte Einzugsermächtigung vom laufenden Konto andererseits, waren unter den Bestimmungen der ab dem 1. Oktober 2019 gültigen Vorschriften über das laufende Konto (VLK 2019) und deren Anhängen zur Zahlung der Beschwerdegebühr nicht zulässig. Das automatische Abbuchungsverfahren steht nur Anmeldern, Patentinhabern und ihren Vertretern offen, nicht aber Einsprechenden (s. Nummer 1.3 der Regeln über das automatische Abbuchungsverfahren). Siehe auch Nummer 5.1.2 VLK 2019 zu zulässigen Wegen der Einreichung eines Abbuchungsauftrags. Im Ergebnis erfolgte keine Abbuchung der Beschwerdegebühr innerhalb der in Art. 108 EPÜ vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten. Allerdings unterblieb die entsprechende in den VLK eigentlich vorgesehene Mitteilung des EPA über die Nichtausführung der Zahlungsaufforderung (Nummer 5.1.3 VLK 2019).
Nach Ansicht der Kammer, hätte eine solche Mitteilung möglicherweise zur rechtzeitigen Zahlung der Beschwerdegebühr geführt, da die entsprechende Zweimonatsfrist erst am 7. Januar 2021 endete.
Die Kammer stellte fest, dass das EPA in früheren Fällen der Beschwerdeführerin eine Zahlung von Gebühren unter Berufung auf das automatische Abbuchungsverfahren auch in Situationen kommentarlos akzeptiert und die Beschwerdegebühr vom laufenden Konto der Beschwerdeführerin abgebucht hatte, in denen diese als Einsprechende auftrat, obwohl dies nicht den geltenden Regularien entsprach. Eine entsprechende Änderung der Praxis des EPA wurde der Beschwerdeführerin auch nicht zur Kenntnis gebracht.
Die Kammer gewährte daher der Einsprechenden Vertrauensschutz. In Ermangelung einer entsprechenden Mitteilung des EPA konnte die Beschwerdeführerin unter den gegebenen Umständen davon ausgehen, dass ihre am 18. Dezember 2020 getätigten Zahlungsanweisungen zur Abbuchung der Beschwerdegebühr akzeptiert und ausgeführt worden waren. Dass dem nicht so war, erfuhr sie erst durch den Bescheid der Kammer vom 21. September 2023. Die Zahlung der Beschwerdegebühr erfolgte daraufhin innerhalb der von der Kammer gesetzten Frist.
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die am 18. Januar 2024 vorgenommene Zahlung der Beschwerdegebühr mit Wirkung zum 18. Dezember 2020 erfolgt war. Daher wurde die Beschwerdegebühr in der von Art. 108 EPÜ vorgesehenen Zweimonatsfrist nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung bezahlt.
Die Beschwerde wurde daher gemäß Art. 108 EPÜ form- und fristgerecht eingelegt.
4.2.2 Ausstehende oder nicht ausreichende Gebührenzahlungen
In J 2/94 war ein Schreiben mit einem Wiedereinsetzungsantrag eingegangen, die entsprechende Zahlung aber ausgeblieben. Nach Auffassung der Kammer konnte der Beschwerdeführer nicht erwarten, dass er nach Eingang seines Wiedereinsetzungsantrags beim EPA umgehend auf die ausstehende Gebühr hingewiesen würde. In diesem Fall war der Eingabe des Beschwerdeführers nichts zu entnehmen gewesen, was eine Aufklärung oder Erinnerung notwendig gemacht hätte. Das EPA kann oft erst nach Fristablauf feststellen, ob eine bestimmte Gebühr entrichtet worden ist, weil ihm erst dann die Daten über sämtliche Zahlungen vorliegen, die in dem betreffenden Zeitraum vorgenommen worden sind (s. auch T 1815/15).
In G 2/97 (ABl. 1999, 123) entschied die Große Beschwerdekammer, dass der Grundsatz von Treu und Glauben die Beschwerdekammern nicht dazu verpflichtet, einen Beschwerdeführer auch dann darauf aufmerksam zu machen, dass eine Beschwerdegebühr noch aussteht, wenn er die Beschwerde so frühzeitig eingereicht hat, dass er die Gebühr noch rechtzeitig entrichten könnte, und weder der Beschwerdeschrift noch irgendeinem anderen auf die Beschwerde bezüglichen Dokument zu entnehmen ist, dass er die Frist für die Entrichtung der Gebühr ohne eine solche Mitteilung versehentlich versäumen würde.
Vor Erlass von G 2/97 hatten die Kammern in verschiedenen Entscheidungen befunden, dass das EPA verpflichtet sei, die Beteiligten im Falle einer fehlenden oder unvollständigen Entrichtung von Gebühren zu warnen, so z. B. in T 14/89 (ABl. 1990, 432), J 13/90 (ABl. 1994, 456), J 15/90 vom 28. November 1994 date: 1994-11-28 und T 923/95. In Bezug auf T 14/89 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass sich diese Entscheidung nur auf den dort gegebenen Sachverhalt bezog, sodass daraus kein allgemeingültiger Grundsatz abgeleitet werden konnte. Die Kammer in T 642/12 befand, dass der in T 923/95 gewählte Ansatz nicht mehr haltbar ist, weil er den Feststellungen von G 2/97 eindeutig widerspricht.
In T 296/96 waren vor Ablauf der Frist nach Art. 108 Satz 1 EPÜ 1973 nur 50 % der Beschwerdegebühr entrichtet worden. Da der Formalsachbearbeiter den Beschwerdeführer jedoch aufforderte, die restliche Beschwerdegebühr zu entrichten, und seine anschließende Zahlung kommentarlos akzeptierte, konnte der Beschwerdeführer in gutem Glauben annehmen, dass die Beschwerde als eingelegt galt (Art. 108 Satz 2 EPÜ 1973) und dass es folglich nicht erforderlich war, einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Der Beschwerdeführer, der durch die Vorgehensweise des Formalsachbearbeiters fehlgeleitet worden war, muss in Übereinstimmung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes so behandelt werden, als habe er die Beschwerdegebühr rechtzeitig entrichtet.
In T 161/96 (ABl. 1999, 331) kam die Kammer zu dem Schluss, dass das EPA nicht verpflichtet gewesen sei, den Verfahrensbeteiligten darauf hinzuweisen, dass ein Rechtsverlust drohte, weil 40 % der Einspruchsgebühr noch ausstanden.
In T 445/98 vertrat die Kammer die Auffassung, dass, da die Abteilung, bei welcher die Gebühr entrichtet wird, nicht dieselbe Abteilung ist wie diejenige, bei der die Beschwerde eingeht, der Mangel nicht leicht erkennbar war und dass die Zeitdauer zwischen der Zahlung der Beschwerdegebühr und dem Ablauf der nicht beachteten zweimonatigen Frist für die Einreichung einer Beschwerde zu kurz bemessen sei, als dass der Einsprechende einen solchen Hinweis erwarten könnte.
In T 642/12 befand die Kammer, dass ein Beschwerdeführer aufgrund der potenziellen Möglichkeit, dass der Fehler entdeckt würde (anstelle von 100 % der Beschwerdegebühr wurden nur 80 % entrichtet), noch keine berechtigte Erwartung hegen kann, dass ein Geschäftsstellenbeamter der Beschwerdekammern ihn innerhalb von sieben Arbeitstagen vor Ablauf der Frist warnt, dass er fälschlicherweise von einer ermäßigten Beschwerdegebühr ausgegangen war. Daher galt die Beschwerdegebühr als nicht entrichtet (s. hingegen T 595/11 in diesem Kapitel III.A.2.2.3). S. auch T 2422/18 und T 1060/19 zur Entrichtung einer ermäßigten Gebühr durch Personen, die die Kriterien gemäß der zutreffenden Mitteilung des EPA vom 18. Dezember 2017 (ABl. 2018, A5) nicht erfüllen.
In T 703/19 war die Kammer der Auffassung, dass ein Benutzer des EPA darauf vertrauen darf, dass bei der Einreichung einer Beschwerde eine Plausibilitätskontrolle vorgenommen wird. In der Beschwerdeschrift hatte der Beschwerdeführer folgende Angabe gemacht: "Die Beschwerdegebühr wird hiermit via Online-Gebührenzahlung entrichtet". Auf dem Begleitschreiben für nachgereichte Unterlagen fanden sich Angaben bezüglich der Art der Gebühren, des zu zahlenden Betrags, nicht aber zur Zahlungsart. Zu letzterer war "nicht angegeben" aufgeführt. Die Angabe der Kontonummer fehlte. Die Kammer stellte fest, dass die fehlenden Angaben in deutlichem Widerspruch zur Intention standen, die Beschwerdegebühr zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerdeschrift zu entrichten. Dieser Mangel war in jedem Fall leicht erkennbar, da das Begleitschreiben sowie die Beschwerdeschrift eine sehr begrenzte Anzahl von Informationen enthielten.
- T 2053/20