4.2. Beispielsfälle zur Aufklärungspflicht bei leicht behebbaren Mängeln
In J 2/94 war ein Schreiben mit einem Wiedereinsetzungsantrag eingegangen, die entsprechende Zahlung aber ausgeblieben. Nach Auffassung der Kammer konnte der Beschwerdeführer nicht erwarten, dass er nach Eingang seines Wiedereinsetzungsantrags beim EPA umgehend auf die ausstehende Gebühr hingewiesen würde. In diesem Fall war der Eingabe des Beschwerdeführers nichts zu entnehmen gewesen, was eine Aufklärung oder Erinnerung notwendig gemacht hätte. Das EPA kann oft erst nach Fristablauf feststellen, ob eine bestimmte Gebühr entrichtet worden ist, weil ihm erst dann die Daten über sämtliche Zahlungen vorliegen, die in dem betreffenden Zeitraum vorgenommen worden sind (s. auch T 1815/15).
In G 2/97 (ABl. 1999, 123) entschied die Große Beschwerdekammer, dass der Grundsatz von Treu und Glauben die Beschwerdekammern nicht dazu verpflichtet, einen Beschwerdeführer auch dann darauf aufmerksam zu machen, dass eine Beschwerdegebühr noch aussteht, wenn er die Beschwerde so frühzeitig eingereicht hat, dass er die Gebühr noch rechtzeitig entrichten könnte, und weder der Beschwerdeschrift noch irgendeinem anderen auf die Beschwerde bezüglichen Dokument zu entnehmen ist, dass er die Frist für die Entrichtung der Gebühr ohne eine solche Mitteilung versehentlich versäumen würde.
Vor Erlass von G 2/97 hatten die Kammern in verschiedenen Entscheidungen befunden, dass das EPA verpflichtet sei, die Beteiligten im Falle einer fehlenden oder unvollständigen Entrichtung von Gebühren zu warnen, so z. B. in T 14/89 (ABl. 1990, 432), J 13/90 (ABl. 1994, 456), J 15/90 vom 28. November 1994 date: 1994-11-28 und T 923/95. In Bezug auf T 14/89 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass sich diese Entscheidung nur auf den dort gegebenen Sachverhalt bezog, sodass daraus kein allgemeingültiger Grundsatz abgeleitet werden konnte. Die Kammer in T 642/12 befand, dass der in T 923/95 gewählte Ansatz nicht mehr haltbar ist, weil er den Feststellungen von G 2/97 eindeutig widerspricht.
In T 296/96 waren vor Ablauf der Frist nach Art. 108 Satz 1 EPÜ 1973 nur 50 % der Beschwerdegebühr entrichtet worden. Da der Formalsachbearbeiter den Beschwerdeführer jedoch aufforderte, die restliche Beschwerdegebühr zu entrichten, und seine anschließende Zahlung kommentarlos akzeptierte, konnte der Beschwerdeführer in gutem Glauben annehmen, dass die Beschwerde als eingelegt galt (Art. 108 Satz 2 EPÜ 1973) und dass es folglich nicht erforderlich war, einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Der Beschwerdeführer, der durch die Vorgehensweise des Formalsachbearbeiters fehlgeleitet worden war, muss in Übereinstimmung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes so behandelt werden, als habe er die Beschwerdegebühr rechtzeitig entrichtet.
In T 161/96 (ABl. 1999, 331) kam die Kammer zu dem Schluss, dass das EPA nicht verpflichtet gewesen sei, den Verfahrensbeteiligten darauf hinzuweisen, dass ein Rechtsverlust drohte, weil 40 % der Einspruchsgebühr noch ausstanden.
In T 445/98 vertrat die Kammer die Auffassung, dass, da die Abteilung, bei welcher die Gebühr entrichtet wird, nicht dieselbe Abteilung ist wie diejenige, bei der die Beschwerde eingeht, der Mangel nicht leicht erkennbar war und dass die Zeitdauer zwischen der Zahlung der Beschwerdegebühr und dem Ablauf der nicht beachteten zweimonatigen Frist für die Einreichung einer Beschwerde zu kurz bemessen sei, als dass der Einsprechende einen solchen Hinweis erwarten könnte.
In T 642/12 befand die Kammer, dass ein Beschwerdeführer aufgrund der potenziellen Möglichkeit, dass der Fehler entdeckt würde (anstelle von 100 % der Beschwerdegebühr wurden nur 80 % entrichtet), noch keine berechtigte Erwartung hegen kann, dass ein Geschäftsstellenbeamter der Beschwerdekammern ihn innerhalb von sieben Arbeitstagen vor Ablauf der Frist warnt, dass er fälschlicherweise von einer ermäßigten Beschwerdegebühr ausgegangen war. Daher galt die Beschwerdegebühr als nicht entrichtet (s. hingegen T 595/11 in diesem Kapitel III.A.2.2.3). S. auch T 2422/18 und T 1060/19 zur Entrichtung einer ermäßigten Gebühr durch Personen, die die Kriterien gemäß der zutreffenden Mitteilung des EPA vom 18. Dezember 2017 (ABl. 2018, A5) nicht erfüllen.
In T 703/19 war die Kammer der Auffassung, dass ein Benutzer des EPA darauf vertrauen darf, dass bei der Einreichung einer Beschwerde eine Plausibilitätskontrolle vorgenommen wird. In der Beschwerdeschrift hatte der Beschwerdeführer folgende Angabe gemacht: "Die Beschwerdegebühr wird hiermit via Online-Gebührenzahlung entrichtet". Auf dem Begleitschreiben für nachgereichte Unterlagen fanden sich Angaben bezüglich der Art der Gebühren, des zu zahlenden Betrags, nicht aber zur Zahlungsart. Zu letzterer war "nicht angegeben" aufgeführt. Die Angabe der Kontonummer fehlte. Die Kammer stellte fest, dass die fehlenden Angaben in deutlichem Widerspruch zur Intention standen, die Beschwerdegebühr zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerdeschrift zu entrichten. Dieser Mangel war in jedem Fall leicht erkennbar, da das Begleitschreiben sowie die Beschwerdeschrift eine sehr begrenzte Anzahl von Informationen enthielten.