4.6. Spätes Vorbringen neuer Argumente
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bietet Art. 114 (2) EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür, spät vorgebrachte Argumente unberücksichtigt zu lassen. Art. 114 (2) EPÜ betrifft verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel, nicht aber Rechtsausführungen und Argumente ("facts and evidence" im Englischen bzw. "faits et preuves" im Französischen) (T 861/93, T 386/01, T 150/09). So können spät vorgebrachte Argumente nicht mit der Begründung unberücksichtigt gelassen werden, dass sie erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden seien (T 92/92, T 704/06). In T 710/15 bestätigte die Kammer, dass Art. 114 (2) EPÜ keine Grundlage dafür biete, Argumente, die verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen. Zur Zulassung neuer Argumente im Verfahren vor den Beschwerdekammern s. auch T 1914/12, in der auf die Entscheidungen T 1069/08 und T 1621/09 verwiesen und von diesen abgewichen wird, sowie Kapitel V.A.4.2.2 l) bis V.A.4.2.2 n).
In T 92/92 vertrat die Kammer die Auffassung, in der englischen Fassung des Art. 114 (1) EPÜ 1973 werde klar zwischen "facts and evidence" (Tatsachen und Beweismittel) einerseits und "arguments" (Argumente) andererseits unterschieden; in Art. 114 (2) EPÜ 1973 hingegen werde das Wort "arguments" überhaupt nicht erwähnt. Art. 114 (2) EPÜ 1973 sei dahin gehend auszulegen, dass das Recht der Beteiligten, Argumente für ihren Standpunkt vorzutragen, nicht über Gebühr eingeschränkt werden dürfe.
Gemäß R. 71a EPÜ 1973 (R. 116 EPÜ) brauchen nach dem in der Ladung genannten Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt zu werden, wenn sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind. R. 71a EPÜ 1973 wie auch der zugrunde liegende Art. 114 (2) EPÜ 1973 beziehen sich auf verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel, nicht jedoch auf neue Argumente, die während des gesamten Verfahrens vorgebracht werden können. Daher müssen nach der Rechtsprechung neue Argumente zur Stützung bereits angeführter Tatsachen gemäß R. 71a (1) EPÜ 1973 berücksichtigt werden, auch wenn sie nach dem in der Ladung angegebenen Zeitpunkt vorgebracht werden, und können ebenso wenig unter Berufung auf Art. 114 (2) EPÜ 1973 zurückgewiesen werden (T 131/01, ABl. 2003, 115; T 926/07; T 1553/07).
Auch in T 2238/15 schloss sich die Kammer (mit Verweis auf T 92/92) der Auffassung an, das EPÜ unterscheide klar zwischen einerseits "Tatsachen und Beweismitteln" und andererseits "Argumenten" und biete keine Grundlage dafür, verspätet vorgebrachte Argumente nicht in das Verfahren zuzulassen. Das mit Art. 114 (2) EPÜ eingeräumte Ermessen, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht zu berücksichtigen, sei daher nicht auf Argumente anwendbar. Dies gelte gleichermaßen für neue Argumente, die nach dem in der Ladung zur mündlichen Verhandlung festgesetzten Zeitpunkt vorgebracht werden (s. R. 116 EPÜ).