3.1.7 Ausnahmen vom Verbot der reformatio in peius
Laut T 809/99 ist der nicht beschwerdeführende Patentinhaber im Beschwerdeverfahren im Wesentlichen darauf beschränkt, die Ansprüche in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung zu verteidigen. Wenn diese Ansprüche nicht gewährbar sind, gilt das Verschlechterungsverbot., d. h. ein geänderter Anspruch, der den Einsprechenden und alleinigen Beschwerdeführer schlechterstellen würde als ohne die Beschwerde, ist zurückzuweisen. Die einzige Ausnahme von diesem in G 1/99 dargelegten Grundsatz setzt voraus, dass eine bestimmte Reihenfolge von Möglichkeiten geprüft wird, um den Mangel im Anspruch bzw. in den Ansprüchen zu beseitigen. Bei der ersten in Frage kommenden Lösung zur Beseitigung des Mangels (Änderung durch Einführung eines oder mehrerer ursprünglich offenbarter beschränkender Merkmale, durch die der Beschwerdeführer (Einsprechende) nicht schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde) handelt es sich de facto um eine Beschränkung des Schutzumfangs. Eine solche Beschränkung kann auch erreicht werden, indem man die alternative Ausführungsform, die zu dem Mangel geführt hat, in dem Anspruch streicht. Das Argument, die Beschränkung auf nur noch eine von zwei Alternativen enge den Schutzumfang so ein, dass es kommerziell uninteressant werde, stellt keinen triftigen Grund dar, um diese Lösung auszulassen und die nächste in G 1/99 genannte Lösungsmöglichkeit zu versuchen.
In T 1194/06 räumte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) ein, dass eine Beschränkung auf dem in G 1/99 (ABl. 2001, 381) an erster Stelle genannten Weg möglich sei, machte jedoch geltend, dass dies zu einer erheblichen Einschränkung des Schutzbereichs der Ansprüche führen würde. Die Kammer war sich der Tatsache bewusst, dass der Beschwerdegegner einen Teil des durch das Patent in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung verliehenen Schutzes verlieren würde. Aus G 1/99 gehe jedoch klar hervor, dass die Beschwerdekammern sich an das Verschlechterungsverbot halten müssten und dass eine Ausnahme von diesem Grundsatz eng auszulegen sei. Der Entscheidung T 1194/06 zufolge lässt nichts darauf schließen, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/99 selbst eine erhebliche Beschränkung des Schutzumfangs für inakzeptabel gehalten hätte.
In T 1033/08 wies die Kammer darauf hin, dass G 1/99 die Entscheidungen G 9/92 date: 1994-07-14 und G 4/93 entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners nicht ersetzt, sondern insofern ergänzt, als sie Anweisungen für die Zulassung einer Ausnahme von dem in diesen Entscheidungen festgelegten Grundsatz des Verbots der reformatio in peius gibt. Verschiedene Voraussetzungen müssen erfüllt sein. Ein im Einspruchsverfahren aufgenommenes beschränkendes Merkmal musste gestrichen werden, und diese Streichung war durch die Beschwerde bedingt, d. h. sie war notwendig und angemessen, weil sie mit einem Einspruchsgrund in Zusammenhang stand und durch ein neues Vorbringen des Beschwerdeführers oder eine andere Beurteilung der Sachlage durch die Beschwerdekammer verursacht wurde. Ohne die Streichung hätte das Patent widerrufen werden müssen. Durch die Aufnahme neuer Merkmale, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung einschränken, hätte der Einwand nicht ausgeräumt werden können. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt waren, konnte ein Einwand entsprechend der zweiten Option von G 1/99 durch die Aufnahme neuer Merkmale ausgeräumt werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ erweitern.
In T 2129/14 ging es um eine unzulässige Änderung, die vier Elemente des beanspruchten Systems und deren Verhältnis zueinander betraf. Gegenüber dem Anspruch 1 des von der Einspruchsabteilung für gewährbar befundenen Antrags wurden im Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags drei Merkmale gestrichen. Damit wurde der Schutzbereich gegenüber dem Antrag erweitert, auf dessen Grundlage das Patent aufrechterhalten worden wäre, wenn der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer keine Beschwerde eingelegt hätte. Unter diesen Umständen war der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt, als wenn er keine Beschwerde eingelegt hätte. Die Kammer merkte an, dass es sich bei den drei in G 1/99 definierten Bedingungen um drei sequenzielle Bedingungen handle. In Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags seien Merkmale hinzugekommen, die auch das Verhältnis der vier Elemente des Systems zueinander beträfen. Jedes Erfordernis, das durch Streichung der unzulässigen Änderung verloren gegangen sei, müsse zusammen mit den hinzugekommenen Merkmalen im Lichte der in G 1/99 definierten Bedingungen betrachtet werden. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Änderungen die Bedingungen für die Ausnahmeregelung nach G 1/99 erfüllten – womit die Streichung der früheren unzulässigen Änderungen möglich wurde – und damit gewährbar waren.