4.2. Offensichtlichkeit des Fehlers und der Berichtigung
Die Große Beschwerdekammer hat in G 3/89 (ABl. 1993, 117) und in G 11/91 (ABl. 1993, 125) präzisiert, dass eine Berichtigung gemäß R. 88 Satz 2 EPÜ 1973 nur dann zugelassen werden kann, wenn der betreffende Teil der europäischen Patentanmeldung oder des Patents eine so offensichtliche Unrichtigkeit enthält, dass für den Fachmann keine Zweifel bestehen, dass eine Angabe unrichtig ist und so nicht gemeint sein kann. Der Fachmann muss in der Lage sein, die unrichtige Angabe unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens objektiv und eindeutig zu erkennen. Ist dagegen zweifelhaft, ob überhaupt eine unrichtige Angabe vorliegt, so ist eine Berichtigung ausgeschlossen. Dasselbe gilt, wenn eine unrichtige Angabe erst vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Berichtigung erkennbar ist.
In T 664/03 entschied die Kammer, dass das betreffende Merkmal in seiner wörtlichen Bedeutung verständlich sei und sich angesichts der Beschreibung und/oder des allgemeinen Fachwissens keine andere Auslegung aufdränge. Somit wäre es zumindest zweifelhaft, ob der Fachmann zu dem Schluss kommen würde, dass das betreffende Merkmal in diesem Anspruch falsch definiert ist.
In T 829/05 erklärte die Kammer, dass der Fachmann, selbst wenn er eine Unstimmigkeit zwischen dem Anspruch und der Zeichnung festgestellt hätte, keinen Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass der Anspruch falsch sei. Die Zeichnung war als schematisch bezeichnet worden, und ohne offenkundigen technischen Grund für die Vermutung, dass der Anspruch falsch ist, würde der Fachmann einfach davon ausgehen, dass die Unstimmigkeit der schematischen Darstellung geschuldet ist.
In T 1436/12 wollte der Anmelder einen Verweis auf ein Dokument (eine durch ein US-Aktenzeichen identifizierte US-Patentanmeldung) berichtigen, das durch Verweis in die europäische Patentanmeldung einbezogen war. Da für die Einbeziehung durch Verweis von Merkmalen eines in Bezug genommenen Dokuments im Verfahren vor dem EPA andere Bestimmungen gelten als im Verfahren vor dem USPTO, hielt die Kammer es für denkbar, dass die Einbeziehung durch Verweis nur für die Bearbeitung im USPTO gedacht war und daher bei Einreichung der internationalen Anmeldung beim EPA absichtlich nicht geändert wurde. Sie war nicht überzeugt, dass der Verweis auf ein US-Aktenzeichen in einer beim EPA eingereichten Anmeldung grundsätzlich als irrtümlich anzusehen ist.
In T 1702/12 hatte der Fachmann nach Auffassung der Kammer zunächst keinen Grund, den Wert 500 in Anspruch 1 in Zweifel zu ziehen, weil der Wert technisch Sinn ergab. Selbst wenn man die Beschreibung und die abhängigen Ansprüche des erteilten Patents berücksichtigt, könnte der Fachmann nicht mit Sicherheit erkennen, dass der Wert 500 falsch ist bzw. ob ein Fehler in der Beschreibung oder den abhängigen Ansprüchen vorliegt. Die Kammer wies das Argument zurück, dass jedes relevante Beweismittel berücksichtigt werden müsse. Muss der Verfahrensverlauf zurate gezogen werden, um feststellen zu können, ob ein Fehler unterlaufen ist und wie dieser zu berichtigen ist, so ist das Kriterium der sofortigen Erkennbarkeit in R. 139 EPÜ nicht erfüllt.
Auch in T 2523/11 sei der Fehler selbst nicht offensichtlich, da der Wortlaut von Anspruch 1 klar und verständlich sei, kein Widerspruch zur Beschreibung vorliege, der Bereich innerhalb des ursprünglich offenbarten Bereichs liege und aus technischer Sicht durchaus sinnvoll sei. Der Fachmann hätte also keinen Grund, daran zu zweifeln, dass etwas anderes als der eingeschränkte Bereich weiterverfolgt werden sollte.
Weitere Beispiele für Fälle, in denen bezweifelt werden konnte, dass der Fachmann zu dem Schluss käme, dass eine unrichtige Definition des betreffenden Merkmals vorliegt, sind u. a. in T 2230/08 und T 1946/16 zu finden.
In T 2058/18 entschied die Kammer, dass Merkmale, die vom Anmelder als wesentliche Unterscheidungsmerkmale der Erfindung gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik dargestellt wurden, im Nachhinein nicht mehr als offensichtliche Fehler betrachtet werden können.