11.6.11 Fälle betreffend den Entscheidungsfindungsprozess und die Entscheidung
(i) Schriftliche Entscheidung weicht von mündlicher Entscheidung ab
In T 425/97 entschied die Kammer, dass jede wesentliche Abweichung der schriftlich mitgeteilten Entscheidung von der im mündlichen Verfahren ergangenen und verkündeten Entscheidung einen Verfahrensfehler darstellt. In T 1365/09 wurde festgestellt, dass ein Widerspruch zwischen der in der mündlichen Verhandlung ergangenen Entscheidung und der schriftlichen Entscheidung, die den Parteien zugesandt worden ist, gegen R. 111 (1) EPÜ verstößt und einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt.
In T 1455/14 stellte die Kammer fest, dass es im EPÜ keine Grundlage dafür gibt, dass die Einspruchsabteilung nach Abschluss der Verhandlung von ihrem Ermessen Gebrauch macht, um einen offensichtlichen Fehler zu berichtigen, ohne dass ein entsprechender Antrag des Patentinhabers nach R. 139 EPÜ vorlag. Daraus ergab sich ein dreifacher Verfahrensmangel. Die schriftliche Entscheidung beruhte auf einem von der Einspruchsabteilung geänderten Text, der erstens nicht vom Patentinhaber eingereicht wurde, zu dem sich zweitens der Einsprechende nicht äußern konnte und der drittens nicht der am Ende der mündlichen Verhandlung verkündeten Entscheidung entsprach.
(ii) Entscheidung weicht von früherer Mitteilung ab
In T 2006/08 befand die Kammer, die Einspruchsabteilung habe sich betreffend die Frage der ausreichenden Offenbarung in zwei Bescheiden zwar zugunsten des Patentinhabers geäußert, doch diese Auffassung sei eindeutig als vorläufig und unverbindlich bezeichnet worden. Die Kammer befand außerdem, dass eine vorläufige Auffassung die Beteiligten nicht von einem vollständigen Vorbringen ihrer Argumente abhalte. Sie hätten sicherzustellen, dass die von ihnen eingereichten Tatsachen und Beweismittel nicht nur unmissverständlich klar, sondern auch möglichst vollständig seien. Beschließe ein Beteiligter, weitere Beweismittel zur Stützung seines Vorbringens zurückzuhalten oder nicht einzureichen, riskiere er, dass möglicherweise eine abschlägige Entscheidung ergehe, die auf die vorliegenden (unvollständigen) Beweismittel gestützt sei. Die Kammer wies den Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr zurück.
In T 980/06 war in der angefochtenen Entscheidung ein Anspruch für patentierbar befunden worden, während sich die Prüfungsabteilung im einzigen vorangehenden Bescheid negativ darüber geäußert hatte. Unter diesen Umständen wäre ein zweiter Bescheid sinnvoll gewesen. Das Fehlen eines zweiten Bescheids sei jedoch kein "wesentlicher" Verfahrensmangel.
(iii) Nichteingehen auf Einwand
In T 740/94 hielt die Kammer die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zur Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang nicht auf einen Einwand eingegangen war, der aufgrund des Art. 100 b) EPÜ 1973 gegen einen geänderten Anspruch erhoben worden war, ganz klar für einen wesentlichen Verfahrensmangel (s. G 10/91, ABl. 1993, 420, Nr. 19 der Gründe).
(iv) Nichterwähnung der Einwendungen Dritter in Entscheidung
In der Entscheidung T 283/02 hatte die Einspruchsabteilung die Einwendungen Dritter dem Patentinhaber ordnungsgemäß übermittelt, der keine Bemerkungen dazu machte. Dass die Einspruchsabteilung diese Einwendungen in ihrer Entscheidung nicht erwähnte, stellte keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar, obwohl eine Erwähnung wünschenswert gewesen wäre.
(v) Abweichen von Kammerentscheidung zu ähnlichem Sachverhalt
In T 494/07 urteilte die Kammer, dass die strikte gesetzliche Verpflichtung, der rechtlichen Beurteilung einer Kammerentscheidung zu folgen (Art. 111 (2) EPÜ 1973), auf die betreffende Anmeldung und auf die Instanz beschränkt ist, deren Entscheidung mit der Beschwerde angefochten wird, sich aber nicht auf andere Anmeldungen (und für dieselbe Anmeldung nicht einmal auf andere Instanzen) erstreckt. Dies gilt auch dann, wenn der Gegenstand der beiden Anmeldungen sehr ähnlich ist (s. J 27/94, ABl. 1995, 831).
(vi) Äußerungen über materiellrechtliche Sachverhalte in einer Entscheidung zur Zulässigkeit
Äußerungen über materiellrechtliche Sachverhalte in einer Entscheidung, mit der ein Einspruch als unzulässig verworfen wird, entfalten keine Rechtswirkung. Sie stellen auch dann keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigt, wenn sie irreführend sind (T 925/91, ABl. 1995, 469; s. auch T 1051/92).
(vii) Anwendung von noch nicht in Kraft getretenen Rechtsvorschriften
In T 991/02 wurde eine Entscheidung der Einspruchsabteilung mangels Rechtsgrundlage aufgehoben. Die Anwendung in diesem Fall einer noch nicht in Kraft getretenen neuen Regel durch die Einspruchsabteilung stellte einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.