5.11.3 Zweiseitiges Beschwerdeverfahren
Nach ständiger Rechtsprechung sieht Art. 12 (4) VOBK 2007 eindeutig vor, dass die Kammer im Inter-partes-Verfahren nach ihrem Ermessen entscheiden kann, Anträge nicht zuzulassen, die der Patentinhaber bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte stellen können. Bei der Entscheidung, ob der betreffende Antrag im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorgebracht werden können, ist zu prüfen, ob vom Antragsteller angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls hätte erwartet werden können, dass er den Antrag im erstinstanzlichen Verfahren stellt (T 1538/10).
In T 240/04 ließ die Kammer den dritten Hilfsantrag nicht in das Verfahren zu. Der Beschwerdeführer hätte den Hilfsantrag vor der Einspruchsabteilung stellen können. Dies sei sogar geboten gewesen, denn der geänderte unabhängige Anspruch betreffe eine mit dem ursprünglichen technischen Problem nur entfernt verwandte Aufgabe und bringe einen vorher nicht erörterten Sachverhalt ein. In einer solchen Situation den neuen Antrag zuzulassen, würde einem Patentinhaber praktisch die Möglichkeit geben, nach Belieben eine Zurückverweisung an die Erstinstanz zu erzwingen. Dies würde den Einsprechenden benachteiligen und wäre auch nicht verfahrensökonomisch.
In T 339/06 befand die Kammer, dass die Zulässigkeit eines erstmalig im Beschwerdeverfahren vorgelegten Antrags, der sich ausschließlich auf einen unabhängigen Anspruch beziehe, der zwar vom Umfang des Einspruchs mit umfasst gewesen sei, aber in der erstinstanzlichen Entscheidung außer Betracht geblieben sei, im Hinblick darauf zu beurteilen ist, ob dieser Antrag auch früher hätte vorgebracht werden können. Bei der Ermessensausübung berücksichtigte die Kammer u. a., dass durch die Einführung dieser Hilfsanträge in das Beschwerdeverfahren ein völlig neuer Fall zur Beurteilung stünde. Der Antrag wurde nicht zugelassen (s. auch den ähnlich gelagerten Fall T 38/13).
In T 1705/07 reichte der Beschwerdeführer erstmals im Beschwerdeverfahren Anträge ein, welche die Verfahrensansprüche, auf denen die angegriffene Entscheidung basierte, nicht mehr enthielten, sondern nur noch Sach- und Verwendungsansprüche. Die Kammer stellte fest, dass diese einen grundsätzlich unterschiedlichen Anspruchsgegenstand betrafen. Deshalb würde deren Zulassung in das Beschwerdeverfahren einen grundsätzlich anderen sachlichen und patentrechtlichen Streitstoff ergeben, sodass es im Regelfall zu einer Zurückverweisung an die Erstinstanz führen würde. Dadurch würde sowohl die Dauer des Verfahrens verlängert, als auch den Parteien und der Öffentlichkeit die Rechtssicherheit über die Gültigkeit des Streitpatents vorenthalten, was nicht mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie vereinbar wäre.
In T 144/09 hatte der Patentinhaber im Einspruchsverfahren ungefähr einen Monat vor der mündlichen Verhandlung ein neues Merkmal in die Anträge eingefügt. In der mündlichen Verhandlung erhob die Einspruchsabteilung gegen die Aufnahme dieses Merkmals einen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ. Der Patentinhaber reichte weder geänderte Anträge noch Hilfsanträge ein. Das Patent wurde daher widerrufen. Mit seiner Beschwerdebegründung reichte der Patentinhaber neue Anträge ohne das betreffende Merkmal ein. Die Kammer führte aus, dass es nach Art. 12 (4) VOBK 2007 möglich sei, einen Antrag nicht zuzulassen, wenn eine im Einspruchsverfahren für unzulässig befundene Erweiterung nicht zumindest im Rahmen eines Hilfsantrags in diesem Verfahren gestrichen wurde, sondern erst im Rahmen eines Antrags im Beschwerdeverfahren (bestätigt in R 11/11 im Hinblick auf den Überprüfungsantrag des Beschwerdeführers in dieser Sache), s. auch T 154/12. In T 848/09 (s. unten Kapitel V.A.5.11.3g)) unterschied die Kammer ihren Fall von T 144/09.
In T 1125/10 reagierte der Beschwerdeführer auf die kurz vor der mündlichen Verhandlung (vor der Einspruchsabteilung) eingereichten offensichtlich relevanten Dokumente nicht und blieb der mündlichen Verhandlung fern. Die Beschwerdekammer war nur deshalb gezwungen, entweder in erster und gleichzeitig letzter Instanz zu entscheiden oder den Fall an die erste Instanz zurückzuverweisen, weil der Beschwerdeführer eine begründete Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Gegenstand der aufgrund dieser Dokumente geänderten Ansprüche verhindert hatte. Daher entschied die Kammer, die neuen Anträge des Beschwerdeführers nicht in das Verfahren zuzulassen (mit Verweis auf T 1067/08). S. auch T 2154/13, ebenfalls zum Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung.
In T 936/09 stellte die Kammer fest, dass der Patentinhaber nach dem EPÜ rechtlich nicht verpflichtet ist, sich aktiv am Einspruchsverfahren zu beteiligen. Ihm steht es allerdings auch nicht frei, sein Vorbringen im Laufe des Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahrens jederzeit etwa entsprechend seiner Prozessstrategie oder seiner finanziellen Situation nach Belieben darzulegen oder zu ergänzen. Beschließt der Patentinhaber, sich inhaltlich überhaupt nicht zum Einspruch zu äußern oder sein Vorbringen im Stadium des erstinstanzlichen Verfahrens nicht zu ergänzen, sondern nimmt erst in der Beschwerdeschrift oder der Beschwerdebegründung dazu Stellung bzw. ergänzt sein Vorbringen dort, dann muss er damit rechnen, dass die Kammer etwa in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2007 ihn für sein Verhalten zur Verantwortung zieht. Siehe auch T 1335/14, T 1400/11, T 2066/18.
In T 23/10 wies die Kammer darauf hin, dass Anträge, die ein Patentinhaber im Einspruchsverfahren zurückhält, von der Zulassung im Beschwerdeverfahren ausgeschlossen sind, da es dem Patentinhaber sonst erlaubt wäre, die gegnerischen Parteien zu benachteiligen, indem er ein Beschwerdeverfahren betreibt, das im Widerspruch zu seinen Handlungen vor der Einspruchsabteilung steht (bestätigt in R 13/11). Siehe auch T 1165/10 (bewusster Verzicht auf Einreichung neuer Anträge und Versuch, das Einspruchsverfahren vor der Beschwerdekammer neu aufzurollen, als Verfahrensmissbrauch gewertet) und T 872/09 (bewusster Verzicht darauf, die Hilfsanträge zu verteidigen).
In T 1467/13 hatte der Patentinhaber vor der Einspruchsabteilung die Aufrechterhaltung auf Grundlage von neuen Anträgen angestrebt, die den nun vorliegenden Haupt- und Hilfsanträgen 1 bis 8 entsprachen. Bei den mit der Beschwerdegründung eingereichten weiteren Hilfsanträgen (9 bis 13) wurde ein Merkmal gestrichen. Dieser Gegenstand lag somit ohne ersichtliche Rechtfertigung außerhalb des vom der Patentinhaber erstinstanzlich abgesteckten Rahmens des Verfahrens. Er hätte folglich im Prinzip in Anlehnung an den Grundsatz des Art. 12 (4) VOBK 2007 im Verfahren vor der ersten Instanz vorgebracht werden sollen.
In T 101/17 war der durch die Hilfsanträge auszuräumende Neuheitseinwand bereits seit der Einlegung des Einspruchs Gegenstand des Verfahrens gewesen; die damit verbundenen Tatsachen und Argumente waren während des gesamten Einspruchsverfahrens unverändert geblieben. Dennoch hatte sich der Beschwerdeführer auf die Verteidigung des Patents in der erteilten Fassung beschränkt. Die Kammer befand, dass er daher im Beschwerdeverfahren aus Gründen der Billigkeit auf die Verteidigung des Patents in unveränderter Form beschränkt war.
In T 2558/16 hätte die am Anfang des Beschwerdeverfahrens beantragte Rückkehr zu den erteilten Ansprüchen nach Auffassung der Kammer bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht werden können und stand die Nicht-Zulassung dieses Antrags daher im Ermessen der Kammer. Dabei waren die Umstände des Einzelfalls, vorliegend insbesondere die Ereignisse im Einspruchsverfahren, bei der Ausübung des Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2007 maßgebend (s. T 28/10). Die Kammer berücksichtigte unter anderem, dass es sich bei dem vorliegenden Antrag um einen erfolgsversprechenden Versuch handelte, alle Einwände der Einspruchsabteilung hinsichtlich des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Antrags auszuräumen. Zum Thema "Rückkehr zur erteilten Fassung" siehe auch Kapitel V.A.5.12.14.
In T 2455/18 waren zusammen mit der Beschwerdebegründung zahlreiche neue Anträge eingereicht worden. Einige dieser Anträge konnten als angemessene Erwiderung auf die erstinstanzliche Entscheidung angesehen werden, während dies für andere fragwürdig erschien. Bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2007 berief sich die Kammer auf das Kriterium der Verfahrensökonomie und -effizienz und erklärte, dass es in einem Fall wie dem vorliegenden einfacher sein kann, alle Anträge zuzulassen, statt für jeden einzelnen Antrag zu begründen, warum er zuzulassen bzw. nicht zuzulassen ist.
- T 2120/18
Catchword:
1. An opposition division's rejection of a request for extension of the time limit indicated in its communication under Rule 79(1) EPC does not terminate the opposition proceedings. Therefore, a patent proprietor is in a position to respond to the notice of opposition beyond the expired time limit or, at least, request the rejection of the opposition as well as oral proceedings. The patent proprietor must anticipate that an opposition division may issue its decision after expiration of the time limit (see Reasons 4.5, 4.6 and 4.9).
2. There is no legal basis for a duty on the part of the opposition division to notify the patent proprietor in advance of its intention to reach a decision, even if that decision concerns the revocation of the patent (see Reasons 4.8, 4.10 and 4.11).
3. If a patent proprietor chooses not to file any submissions during the opposition proceedings but to present them only with its statement of grounds of appeal, this amounts to bringing an entirely fresh case in appeal proceedings. This is at odds with the primary object of the appeal proceedings to review the decision under appeal in a judicial manner. Consequently, a board has the discretion under Article 12(4) RPBA 2007 not to admit the patent proprietor's defence submissions into the appeal proceedings. This does, however, not necessarily lead to revocation of the patent. The decision under appeal is still to be reviewed by the board, which might overturn the impugned decision, for example if it is not convinced by the reasons given by the opposition division or in the event of a substantial procedural violation (see Reasons 5.5 and 5.6).