6. Rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren
Art. 113 (1) EPÜ, in dem das rechtliche Gehör verankert ist, schreibt vor, dass Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Der Begriff "Gründe" in Art. 113 (1) EPÜ sollte dabei nicht eng ausgelegt werden. Damit ist nicht nur ein einzelner Grund für die Beanstandung einer Anmeldung oder eines Patents im engeren Sinne eines Erfordernisses des Übereinkommens gemeint, das als nicht erfüllt angesehen wird, sondern es sind darunter auch die wesentlichen Gründe sowohl rechtlicher als auch faktischer Art zu verstehen, die zu den Feststellungen der Entscheidung führen (s. z. B. T 951/92, ABl. 1996, 53 zur Zurückweisung der Anmeldung, T 433/93 zum Widerruf sowie T 1056/98 zur Unzulässigkeit; zum rechtlichen Gehör s. auch Kapitel III.B.).
In T 293/88 (ABl. 1992, 220) stellte die Kammer fest, die Einspruchsabteilung habe in ihrer Entscheidung, das Patent ohne vorherigen Bescheid zu widerrufen, außer Acht gelassen, dass die Gültigkeit der nicht angefochtenen Ansprüche 7, 9 und 10 bisher gar nicht angefochten worden sei und unter diesen Umständen billigerweise zumindest eine weitere Gelegenheit hätte geboten werden müssen, um auf diesen Sachverhalt einzugehen. Nach Art. 113 (1) EPÜ ist es jedoch Aufgabe der Einspruchsabteilung, die Beteiligten auf solche in engem Zusammenhang stehenden zusätzlichen Gegenstände anzusprechen – was sie vorliegend nicht tat (anders T 463/93; s. auch T 2094/12).
In T 558/95 hatte die Einspruchsabteilung in zwei schriftlichen Mitteilungen vor der mündlichen Verhandlung den in der offenkundigen Vorbenutzung beschriebenen Gegenstand "nach vorläufiger Ansicht der Einspruchsabteilung" im Sinne von Art. 100 a) EPÜ nicht als dem Streitpatent entgegenstehend angesehen. Nach Ansicht des Patentinhabers war die ausführliche Behandlung der offenkundigen Vorbenutzung in der mündlichen Verhandlung folglich für ihn "überraschend". Die Beschwerdekammer vertrat jedoch die Ansicht, dass solche vorläufigen Ausführungen nicht für das weitere Verfahren verbindlich seien.
Verwirft die Einspruchsabteilung den Einspruch als unzulässig, ohne dass sie den Unzulässigkeitsgrund vor der Entscheidung bekannt gibt, so hindert sie den Einsprechenden daran, sich dazu zu äußern, und verstößt dabei gegen das Recht auf rechtliches Gehör (T 1056/98).
Bevor eine Abteilung des EPA eine Entscheidung erlässt, wird dem Beteiligten nach Übermittlung eines Dokuments in der Regel genügend Zeit zur Stellungnahme gegeben (T 263/93; s. vorstehend in diesem Kapitel IV.C.6.4). Sollte die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen werden, hat der Empfänger eines Dokuments immer noch die Möglichkeit, der Argumentation der Gegenseite entgegenzutreten (vgl. T 832/92).
Auf der Grundlage von Art. 113 (1) EPÜ muss die Einspruchsabteilung den Beteiligten ausdrücklich Gelegenheit zur Stellungnahme geben, nachdem die Beschwerdekammer eine Sache zur Fortsetzung des Verfahrens auf der Grundlage neuen Beweismaterials an sie zurückverwiesen hat, und zwar auch dann, wenn im vorangegangenen Beschwerdeverfahren zu diesem neuen Beweismaterial bereits Stellung genommen worden sei (vgl. T 892/92, ABl. 1994, 664; s. auch T 769/91). Diese Auffassung teilte auch die Kammer in T 120/96 und fügte hinzu, der in Art. 113 (1) EPÜ gebrauchte Ausdruck "sich äußern können" erhalte erst in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Anspruch auf ein faires Verfahren Bedeutung. Damit die Beteiligten sich äußern können, müssen sie zuvor ausdrücklich gefragt werden, ob sie – innerhalb einer gesetzten Frist – eine Stellungnahme abzugeben wünschen oder ob die Schriftsätze, in denen sie – wie im vorliegenden Fall – bereits im Verlaufe des vorangegangenen Beschwerdeverfahrens ausführlich Stellung genommen hatten, als vollständig anzusehen seien. Schon aus diesem Grund gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass der sofortige Abschluss des Einspruchsverfahrens im Anschluss an die Zurückverweisung, und zwar ohne Zwischenbescheid, in dem die Fortsetzung des Verfahrens angekündigt wurde, nicht im Einklang mit den Bestimmungen des Art. 113 (1) EPÜ gestanden habe.
In T 1027/13, stellte die Kammer fest, dass die Einspruchsabteilung durch das kategorische Verbot, der Begleitperson zu gestatten, mündliche Ausführungen zu machen oder auch nur mit dem Vertreter des Einsprechenden zu kommunizieren, den Einsprechenden letztlich daran gehindert hatte, sich "effizient und wirksam" zu den streitigen Punkten des Falls zu äußern. Dies entsprach nicht den in G 4/95 (ABl. 1996, 412 aufgestellten Grundsätzen; zu diesen Grundsätzen s. auch Kapitel III.V.5.2).