7.10. Niederschrift der mündlichen Verhandlung (Regel 124 EPÜ)
In T 642/97 stellte die Kammer fest, dass die Niederschrift nach R. 76 EPÜ 1973 (R. 124 EPÜ) zufolge nicht die vollständigen Argumente der Beteiligten widerspiegeln müsse. Es liege im Ermessen des Protokollführers, was er für "wesentlich" bzw. "rechtserheblich" halte (s. auch T 212/97; s. auch T 468/99, T 2185/15, T 2370/16: Es liegt in der Verantwortung der Kammer, zu entscheiden, was in die Niederschrift aufgenommen werden muss). Während die Niederschrift die Anträge oder ähnlich wichtige verfahrensrechtliche Erklärungen enthalten müsse, gingen die meisten Argumente zur Patentierbarkeit aus den früheren Schriftsätzen oder aus dem Sachverhalt und den Anträgen in der schriftlichen Entscheidung hervor, weshalb sie in der Niederschrift nicht enthalten sein müssten.
In T 263/05 (ABl. 2008, 329) stellte die Kammer fest, dass die Anträge der Beteiligten in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer aufzuführen sind, über die die Beschwerdekammer zu entscheiden hat, also z. B. Anträge zur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit der Beschwerde, Anträge zur Fassung, in der das Patent nach Auffassung des Patentinhabers aufrechterhalten werden soll, Anträge auf Zurückverweisung der Sache oder Anträge bezüglich der Beschwerdegebühren oder Verfahrenskosten. Ferner sind in der Niederschrift spezielle Erklärungen festzuhalten, die Einfluss auf die Definition des Erfindungsgegenstands haben, wie z. B. Verzichtserklärungen, sofern sie für die zu treffende Entscheidung relevant sind (s. auch T 212/97, T 928/98, T 550/04, T 71/06, T 2351/08, T 1934/14 vom 8. Oktober 2018 date: 2018-10-08, T 2370/16). Nicht in die Niederschrift aufzunehmen sind die Argumente der Beteiligten betreffend die Patentierbarkeit; sie gehen aus dem Abschnitt "Sachverhalt und Anträge" der schriftlichen Entscheidung hervor.
Laut der Kammer in T 1934/14 vom 8. Oktober 2018 date: 2018-10-08 gehört ein Antrag auf Unterbrechung der mündlichen Verhandlung zum wesentlichen Gang der mündlichen Verhandlung.
In T 397/03 befand die Kammer, dass der Inhalt von Anträgen, die eine Partei in einer mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht hat, ein wesentliches Element ist und in die Niederschrift aufgenommen werden sollte. In T 240/09 stellte die Kammer fest, dass für den Gang der mündlichen Verhandlung in einem Beschwerdeverfahren – was die Anträge der Beteiligten betrifft – nur die von dem Vorsitzenden vor Beendigung der sachlichen Debatte festzustellenden abschließenden Anträge wesentlich sind (Art. 15 (5) VOBK 2007); zurückgenommene Anträge sind für die Entscheidung der Kammer grundsätzlich ohne Bedeutung und daher nicht "wesentlich". S. auch T 957/99, T 966/99.
In T 231/99 sah die Kammer eine wesentliche Funktion der Niederschrift darin, für das Rechtsmittelgericht den Gang der mündlichen Verhandlung in der Vorinstanz darzustellen.
In T 396/89 stellte die Kammer fest, dass in der Niederschrift über die Verhandlung sorgfältig festgehalten werden sollte, wenn ein Zugeständnis zu einem wesentlichen Punkt gemacht wird.
In T 1735/08 vom 27. September 2012 date: 2012-09-27 befand die Kammer, dass es nach R. 124 (1) EPÜ hingegen weder erforderlich noch in Verfahren vor der Beschwerdekammer üblich ist, in das Protokoll aufzunehmen, dass die Kammer eine vorläufige Auffassung über die Patentierungsvoraussetzungen vor der Verkündung der Entscheidung geäußert hat. Bei einer Entscheidung auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung erfolgen die Angabe des Anspruchssatzes und die Begründung, warum dieser Anspruchssatz, der die Grundlage für die weitere Entscheidung der ersten Instanz bildet, nach Ansicht der Beschwerdekammer einen Teil der Patentierungsvoraussetzungen erfüllt, nicht im Verhandlungsprotokoll, sondern in der Begründung der Entscheidung.
Nach T 317/09 bezieht sich die in R. 124 EPÜ geforderte Rechtserheblichkeit auf die von der Kammer zu treffenden Entscheidung. Die von dem Beschwerdeführer eingereichte Erklärung, wie er bestimmte Merkmale der Erfindung versteht, betraf weder den Gang der Verhandlung, noch war sie als subjektive Einschätzung des Beschwerdeführers für die von der Kammer zu treffende Entscheidung rechtserheblich. S. auch T 468/99.
In T 281/03 vom 17. Mai 2006 date: 2006-05-17 stellte die Kammer fest, dass es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs eines ausdrücklichen und in der Niederschrift der Einspruchsabteilung festgehaltenen Schrittes bedurft hätte, wobei dem Einsprechenden Gelegenheit hätte gegeben werden müssen, entweder vor der abschließenden Beratung der Einspruchsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit Stellung zu nehmen oder aber sich nach dieser Beratung zu der von ihr getroffenen Feststellung zu äußern, dass ein solcher Einwand prima facie nicht ersichtlich sei. Die Tatsache, dass dem Einsprechenden vor der abschließenden Beratung "noch einmal das Wort erteilt worden sei" bzw. dass er eine "letzte Stellungnahme abgegeben habe", die in der Niederschrift festgehalten wurde, genügt nicht, um dieses Erfordernis zu erfüllen.
In T 1359/04 wies die Kammer darauf hin, dass das Einführen von neuen Dokumenten von Seiten der Prüfungsabteilung erst in der mündlichen Verhandlung einen außergewöhnlichen Vorgang darstellt, bei dem äußerste Sorgfalt zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs für die Anmelderin geboten ist. In der Regel ist die Verhandlung zu unterbrechen, um der betroffenen Partei eine ausreichende Gelegenheit zum Studium des neuen Beweismaterials sowie zum Überdenken des Vortrags zu geben. Dabei ist es gerade der Zweck des Protokolls den ordnungsgemäßen Ablauf dieser Vorgänge zu dokumentieren.
In T 1798/08 erklärte die Kammer, dass es nicht Zweck der Niederschrift ist, Erklärungen wiederzugeben, die ein Beteiligter möglicherweise für relevant erachtet, wie z. B. die Erklärung, dass die Kammer den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Diese Erklärung betraf nicht den Verzicht auf Gegenstände und hatte auch keine sonstigen Auswirkungen auf die Definition des Gegenstands, mit dem sich die Kammer zu befassen hatte. Sie war weder Teil des wesentlichen Gangs der mündlichen Verhandlung noch für die Entscheidung relevant.
In R 14/09 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass ein Einwand nach R. 106 EPÜ in der Niederschrift festgehalten werden muss, da es sich um eine rechtserhebliche Erklärung eines Beteiligten handelt (s. R 17/10; s. auch R 2/12 vom 17. Oktober 2012 date: 2012-10-17 "zumindest auf Antrag eines Beteiligten", T 1934/14 vom 8 Oktober 2018 date: 2018-10-08). S. Kapitel V.B.3.6.4 "Niederschrift über die mündliche Verhandlung als Nachweis für die Erhebung eines Einwands".
In T 2405/10 wollte der Beschwerdeführer eine Erklärung zum Aufgabe-Lösungs-Ansatz in die Niederschrift aufnehmen lassen, nachdem die Verhandlung bereits geschlossen war. Da die Erklärung nicht in der mündlichen Verhandlung erfolgte, gab es keinen Grund sie in die Niederschrift aufzunehmen.
- T 1690/22
Zusammenfassung
In T 1690/22 wendete sich die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) mit ihrer ersten Rüge gemäß R. 106 EPÜ gegen die Nichtzulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 als schweren Verfahrensfehler in Gestalt einer Verletzung des rechtlichen Gehörs. Sie sei in ihren grundlegenden Rechten beschnitten worden, sich gegen die Einspruchsgründe zur Wehr zu setzen. Sie gab auch an, dass die Nichtzulassung der Hilfsanträge nicht durch das Übereinkommen oder die Verfahrensordnung gestützt sei.
Die Beschwerdekammer stellte zunächst klar, dass die Nichtzulassung als solche keinen wesentlichen Verfahrensfehler darstelle. Sie erklärte sodann, dass ein Verfahrensfehler im Sinne von Art. 112a (2) c) EPÜ in Gestalt einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 113 (1) EPÜ, wie von der Beschwerdegegnerin gerügt, nicht ersichtlich sei. Die Entscheidung über die Nichtzulassung sei auf das Übereinkommen und die geltende Verfahrensordnung gestützt und folge einer langjährigen als gefestigt zu erachtenden Rechtsprechung. Allein der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin zu dieser Rechtsanwendung "ausdrücklich" eine gegenteilige Auffassung vertritt, könne jedenfalls keinen schwerwiegenden Verfahrensfehler, respektive keine Gehörsverletzung, begründen.
Zu dem strittigen Punkt der Substantiierung und der Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 habe die Beschwerdegegnerin von den ihr jeweils gebotenen Möglichkeiten, sich zu äußern, ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Kammer sei unter Berücksichtigung der von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente zu der Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu Art. 12 (3) VOBK und zu der nachfolgenden Ermessensbeurteilung im Rahmen des Art. 12 (5) VOBK gelangt. Das rechtliche Gehör der Beschwerdegegnerin sei insoweit gewahrt worden. Ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ im Sinne von Art. 112a (2) c) EPÜ war daher für die Kammer nicht ersichtlich.
Mit einer zweiten Rüge hatte die Beschwerdegegnerin vorgebracht, dass sie ihre erste Rüge zur Nichtzulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 nicht schriftlich vorzulegen brauche und die Aufforderung der Kammer zur Vorlage einer schriftlichen Rüge daher einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle. Die Kammer stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin nicht erklärt hatte, welcher der in Art. 112a (2) a) bis d) und R. 104 EPÜ abschließend normierten Gründe für einen Überprüfungsantrag geltend gemacht werden sollte. Der Kammer zufolge war es ebenso wenig ersichtlich, dass einer dieser Gründe hier einschlägig sein könnte.
Die Kammer erinnerte daran, dass es der Sinn und Zweck der Rügeobliegenheit nach R. 106 EPÜ ist, der Kammer die Möglichkeit zu geben, unmittelbar und angemessen zu reagieren. Daher muss eine Rüge nach R. 106 EPÜ eindeutig erkennen lassen, welche der in Art. 112a (2) a) bis d) und R. 104 EPÜ aufgeführten Mängel geltend gemacht werden sollen (ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, siehe z.B. R 4/08).
Gerade vor dem Hintergrund dieses Zwecks der Rügeobliegenheit war die Kammer der Auffassung, dass die schriftliche Einreichung einer Rüge einer Praxis entspreche, die es ermögliche, den Umfang dieser Rüge klar zu bestimmen. Es schriftlich oder nur mündlich zu tun, ändere nichts an der Substanz der erhobenen Rüge. Die schriftliche Vorlage des Gegenstands einer Rüge ermögliche es jedoch, für die Kammer und die Beteiligten nachvollziehbar festzuhalten, worüber die Kammer zu entscheiden hatte, und sicherzustellen, dass in einem möglichen Überprüfungsverfahren keine Unsicherheiten über die von der rügenden Beteiligten beabsichtigte Formulierung der Rüge bestehen.
Die Kammer ergänzte hierzu, dass zum wesentlichen Gang der mündlichen Verhandlung, der nach R. 124 (1) EPÜ in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen ist, der Umstand als solcher gehören könne, dass eine Rüge nach R. 106 EPÜ erhoben wurde, nicht aber die dazu von der jeweiligen Beteiligten vorgebrachten und für die Zulässigkeit der Rüge erforderlichen Gründe und Argumente. Vielmehr sei es Sache der Beteiligten, Erklärungen und Begründungen zu ihren Anträgen schriftlich einzureichen.
Es war für die Kammer vorliegend nicht erkennbar, worin in der Aufforderung zur schriftlichen Formulierung der Rüge ein möglicher Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ liegen sollte. Die erste und zweite Rüge der Beschwerdegegnerin wurden folglich zurückgewiesen.