2.2. Grenzen des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
Von den Beteiligten an den Verfahren vor dem EPA und ihren Vertretern darf normalerweise erwartet werden, dass sie sowohl die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens kennen, selbst wenn diese kompliziert sind (J 27/92, ABl. 1995, 288; T 578/14; J 10/17; J 1/19), als auch alle vom EPA veröffentlichten Mitteilungen zur Patentpraxis (T 267/08). Im Allgemeinen wird auch erwartet, dass sie das Recht zum EPÜ einschließlich der einschlägigen Entscheidungen der Beschwerdekammern kennen (R 17/09).
In J 17/98 (ABl. 2000, 399) entschied die Kammer, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes, dem zufolge Bescheide des Europäischen Patentamts einschließlich amtlicher Formblätter klar und unmissverständlich sein müssen, nicht so weit gehe, dass diese Formblätter umfassende Rechtsauskünfte enthalten müssen. Die Formblätter müssten zwar klar und unmissverständlich sein, brauchten jedoch keine detaillierten rechtlichen Erläuterungen zu enthalten. Dies gelte insbesondere für Rechtsfragen, die sich unmittelbar aus den Vorschriften des Übereinkommens ergeben (s. auch T 778/00, ABl. 2001, 554).
Die Kammer kam in J 5/02 zu dem Schluss, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht verletzt worden ist, wenn das EPA einem berufsmäßigen Vertreter fehlerhafte Informationen erteilt, aus denen er ableitet, dass die einschlägigen gesetzlichen Regelungen – hier Art. 122 EPÜ 1973 – nicht mehr maßgeblich seien. Wenn er nämlich die Unrichtigkeit der Informationen nicht erkennt, muss er sich eine grundsätzliche unentschuldbare Unkenntnis des Gesetzes vorhalten lassen; hat er dagegen die Unrichtigkeit erkannt, dann ist er nicht irregeführt worden.
In T 267/08 stellte die Kammer fest, dass von einem zugelassenen Vertreter erwartet werden muss, dass er mit allen vom EPA veröffentlichten Mitteilungen zur Patentpraxis vertraut ist. Der neue Vertreter hätte wissen müssen, dass der Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Vollmachten (ABl. SA 3/2007, L.1) ausdrücklich die Einreichung der Vollmacht im Original vorsieht und der Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Patentanmeldungen und anderen Unterlagen durch Telefax (ABl. SA 3/2007, A.3) eine Einreichung per Fax verbietet. Die Information über die Eintragung des Vertreterwechsels ins Register hätte ihn nicht zu der falschen Annahme verleiten dürfen, dass eine per Fax übermittelte Vollmacht ausreichend ist. Nur eine "grundsätzlich unentschuldbare Unkenntnis des Gesetzes" (mit Verweis auf J 5/02) konnte ihn zu einer solchen Schlussfolgerung veranlassen.
In T 590/18 vom 4. Juli 2018 date: 2018-07-04 stellte die Kammer Folgendes fest: Durch einen nach dem 1. Dezember 2017 in Papierform (EPA Form 1010) erteilten Abbuchungsauftrag kann die Zahlung der Beschwerdegebühr allenfalls dann bewirkt werden, wenn sich der Beschwerdeführer mit Erfolg darauf berufen kann, er habe in einem aktuellen Internetauftritt des Amts noch nach Inkrafttreten der Änderung einen eindeutigen Hinweis auf die Möglichkeit der Zahlung der Beschwerdegebühren mittels des Formulars EPA-Form 1010 gefunden, auf die Richtigkeit dieses Hinweises vertrauen durfte und auch tatsächlich darauf vertraut hat. Ein solches Vertrauen wird nicht begründet durch das Auffinden der PDF‑Version einer vor Inkrafttreten der Änderung publizierten Broschüre. Der Begründung schutzwürdigen Vertrauens steht die Kenntnis des Beschwerdeführers von der Änderung der Zahlungswege entgegen.
In R 4/09 erklärte die Große Beschwerdekammer im Zusammenhang mit einer behaupteten Verletzung des Vertrauensschutzes, dass davon auszugehen sei, dass ein Verfahrensbeteiligter – zumindest wenn er sich von einem zugelassenen Vertreter vertreten lasse – die Rechtsprechung kenne, und er sich folglich nicht als Entschuldigung auf die Unkenntnis selbiger berufen könne: ignorantia legis non excusat (s. auch T 736/14 und J 6/19). Nach J 19/10 darf von einem zugelassenen Vertreter erwartet werden, dass er mit Verfahrensfragen im Allgemeinen und mit der detaillierten und ständigen Rechtsprechung der Kammern im Besonderen vertraut ist.
In T 1086/09 befand die Kammer, dass die Erwartung des Vertreters, der mit einer 50%igen Erstattung der Beschwerdegebühr rechnete, unberechtigt war, weil sie auf einen Rechtsirrtum zurückging, d. h. auf eine falsche Auslegung der neuen R. 103 (2) EPÜ, die auf die vorliegende Beschwerde keine Anwendung fand.