5.11.3 Zweiseitiges Beschwerdeverfahren
Nach Art. 12 (4) VOBK 2007 liegt es im Ermessen der Kammer, Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Dies gilt nach Auffassung der Beschwerdekammern umso mehr für Anträge, die im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht und anschließend wieder zurückgenommen wurden, weil ein solches Vorgehen eindeutig zeigt, dass der betreffende Antrag im erstinstanzlichen Verfahren hätte gestellt werden können. Der Zweck der Beschwerde besteht darin, zu überprüfen, was die erste Instanz entschieden hat und, als logische Folgerung, nicht zu überprüfen, was nicht entschieden worden ist (T 528/93, T 1186/06, T 390/07, T 1587/07, T 361/08, T 340/10, T 1525/10, T 140/12, T 1689/12). Siehe auch die im Kapitel V.A.5.12.14 "Rückkehr zu breiteren Ansprüchen, insbesondere der erteilten Fassung" aufgeführte Rechtsprechung. Von der Rücknahme zu unterscheiden ist der Verzicht auf einen Antrag. Anders als nach Rücknahme eines Antrags, der grundsätzlich – bei Zulassung durch die zuständige Abteilung oder Kammer – wieder ins Verfahren eingeführt werden kann, kann bei einem Verzicht auf einen Antrag dieser nicht neu gestellt werden (T 926/12).
Nach T 1695/14 kann die Rücknahme eines Antrags ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Eine konkludente Antragsrücknahme liegt dann vor, wenn sich aus den Umständen zweifelsfrei ergibt, dass bestimmte Anträge nicht weiterverfolgt werden sollen (vgl. T 388/12, T 52/15). Das Verfahrensrecht kennt geltende oder zurückgenommene Anträge, nicht aber ruhende Anträge.
Ein von den Beschwerdekammern bei der Ermessensausübung häufig angewendetes Kriterium ist, ob das erstinstanzliche Organ durch die Rücknahme eines Antrags daran gehindert wurde, eine begründete Entscheidung zu den kritischen Punkten zu treffen, und die Kammer dadurch gezwungen wird, entweder erstmalig über diese Punkte zu entscheiden oder den Fall an die erste Instanz zurückzuverweisen (z. B. T 495/10, T 679/09, T 1855/16).
(i) Antrag wurde von der Kammer nicht zugelassen
In T 679/09 war es zwar nicht unbedingt die Absicht des Beschwerdeführers, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung zur Zulässigkeit unter anderem von Hilfsantrag III zu vermeiden, doch hatte die Rücknahme dies unweigerlich zur Folge (T 495/10, s. auch T 933/04, T 1067/08, T 935/12, T 1697/12).
In T 1525/10 stellte die Kammer fest: Sowohl das EPA als auch die Benutzer des europäischen Patentsystems, die an Verfahren vor dem EPA beteiligt sind, sind zu redlichem Verhalten verpflichtet. Ein Patentinhaber, der Hilfsanträge einreicht, mit denen er den Rahmen des Einspruchsverfahrens absteckt, und diese anschließend bewusst zurückzieht, um eine für ihn ungünstige Entscheidung zu vermeiden, verstößt mit dem Versuch, diese Anträge in das Beschwerdeverfahren einzuführen, gegen diesen allgemeinen Grundsatz.
In T 390/07 wurde der im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag, der im Einspruchsverfahren durch einen anderen Antrag ersetzt worden war, weil er sonst offensichtlich gescheitert wäre und der Anmelder so eine entsprechende formelle Entscheidung verhindern wollte, von der Kammer für unzulässig befunden.
In T 691/09 wurde die verspätete Einführung eines Antrags, der während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zurückgezogen worden war, als Verfahrensmissbrauch bewertet.
In T 52/15 wurden der Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 und 2 zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht und entsprachen dem ursprünglichen Antrag des Patentinhabers und zwei in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträgen. Diese Anträge unterschieden sich erheblich von dem Antrag, über den in der angefochtenen Entscheidung entschieden worden war. Die Kammer stellte fest, dass die Wiedereinführung zuvor zurückgenommener Anträge im Beschwerdeverfahren dem Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens zuwiderläuft, nämlich der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Es gibt zwar Entscheidungen, in denen die Kammern den Patentinhabern erlaubten, breitere, im Einspruchsverfahren zurückgenommene oder nicht aufrecht erhaltene Anträge wieder ins Verfahren einzuführen, doch sind auch zahlreiche Entscheidungen ergangen, in denen die Kammern ihr Ermessen streng ausgeübt und solche Anträge nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen haben (s. T 390/07, T 361/08, T 671/08, T 922/08, T 1525/10, T 140/12, T 1697/12, T 143/14). Der Kammer schien dies der derzeit vorherrschende Ansatz der Kammern zu sein. Die Anträge wurden nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen (Art. 12 (4) VOBK 2007).
(ii) Antrag wurde von der Kammer zugelassen
In T 2599/11 hatte die Kammer im Hinblick auf Art. 12 (4) VOBK 2007 zu beurteilen, ob der Beschwerdeführer durch die unterlassene Einreichung des einzigen im Beschwerdeverfahren eingereichten Antrags oder durch die Zurücknahme des ähnlichen Antrags A im Einspruchsverfahren die Einspruchsabteilung an einer begründeten Entscheidung zu den kritischen Fragen gehindert hatte. In der vorliegenden Sache kam die Kammer zu dem Schluss, dass die kritischen Fragen im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren insofern identisch waren, als zu klären war, ob der beanspruchte Gegenstand erfinderisch ist. Der einzige Antrag des Beschwerdeführers stellte daher kein völlig neues Vorbringen dar und wurde in das Verfahren zugelassen (s. auch T 467/13).
In T 937/11 war der Hauptantrag identisch mit dem im Einspruchsverfahren zurückgenommenen Hilfsantrag 1. Die Kammer erklärte, dass die Umstände des vorliegenden Falls von der Situation zu unterscheiden seien, die den Entscheidungen T 1525/10 und T 390/07 zugrunde lag (s. oben). Die Begründung der Einspruchsabteilung für die Zurückweisung des Hauptantrags habe analog auch für die Ansprüche des Hilfsantrags 1 gegolten, sodass der Beschwerdeführer mit der Zurücknahme des Hilfsantrags 1 eine Entscheidung über den Einspruchsgrund nicht umgangen habe. Außerdem habe er die Gegenparteien im Beschwerdeverfahren weder überrascht noch benachteiligt, als er den zurückgenommenen Hilfsantrag 1 zum Hauptantrag vor der Kammer gemacht habe.
In T 883/12 hatte der Patentinhaber überzeugend argumentiert, warum es durchaus sinnvoll gewesen sei, einige der Hilfsanträge vor der Einspruchsabteilung zurückzunehmen, ohne dass über sie entschieden worden sei: die Einspruchsabteilung habe in Bezug auf einen höherrangigen Antrag befunden, dass zur Bejahung der erfinderischen Tätigkeit ein bestimmtes Merkmal erforderlich sei; dieses sei jedoch in den Ansprüchen der zurückgenommenen Hilfsanträge nicht enthalten gewesen. Die Kammer befand, dass es sich bei dem vorliegenden Antrag nicht um einen Antrag handelte, der vernünftigerweise im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können.
In T 350/17 ließ die Kammer einen Antrag zu, der mit einem in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zurückgenommenen und ersetzten Hilfsantrag im Wesentlichen identisch war. Die Kammer machte einen Unterschied gegenüber T 140/12, da der Antrag unter besonderen Umständen ersetzt worden war, was seine erneute Einreichung rechtfertigte. Erstens wurde durch die Zurücknahme nicht eine Debatte über die Patentierbarkeit verhindert, denn die Abteilung hatte ihre Schlussfolgerung bereits verkündet. Zweitens stand der Patentinhaber durch die Warnung der Abteilung, sie werde nur noch einen Hilfsantrag zulassen, wohl unter dem Druck, sich auf Anträge zu konzentrieren, die die noch offenen Einwände ausräumen könnten.
Die Kammer in T 1855/16 entschied, dass die erneut vorgelegten Hilfsanträge keinen völlig neuen Sachverhalt darstellten. Die beiden kritischen Aspekte waren von der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung behandelt worden, wenn auch im Zusammenhang mit anderen Hilfsanträgen.