6.5.6 Feststellung des technischen Charakters
Vormals Abschnitt I.A.2.4.6.i). Dieser Abschnitt wurde aufgrund von Aktualisierungen in vorhergehenden Abschnitten umnummeriert. Am Inhalt dieses Abschnitts wurden keine Änderungen vorgenommen. |
G 1/19 betraf die computerimplementierte Simulation der Bewegung einer Fußgängermenge durch eine Umgebung. Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wurden wie folgt beantwortet:
1. Für die Zwecke der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit kann eine computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens, die als solche beansprucht wird, durch Erzeugung einer technischen Wirkung, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht, eine technische Aufgabe lösen.
2. Für diese Beurteilung ist es keine hinreichende Bedingung, dass die Simulation ganz oder teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen.
3. Die erste und zweite Frage sind auch dann nicht anders zu beantworten, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht wird, insbesondere für die Überprüfung eines Entwurfs.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist der COMVIKAnsatz für die Beurteilung computerimplementierter Simulationen geeignet. Wie alle anderen computerimplementierten Erfindungen auch, können numerische Simulationen patentierbar sein, wenn die erfinderische Tätigkeit auf Merkmale gestützt werden kann, die zum technischen Charakter des beanspruchten Simulationsverfahrens beitragen. Wird der COMVIK-Ansatz auf Simulationen angewendet, so geben die zugrunde liegenden Modelle Grenzen vor, die technischer oder nichttechnischer Art sein können. Was die Simulation selbst angeht, sind diese Grenzen nichttechnisch. Sie können aber zur Technizität beitragen, wenn sie z. B. Anlass zur Anpassung des Computers oder seiner Funktionsweise geben oder die Grundlage für eine weitere technische Verwendung der Ergebnisse der Simulation bilden (z. B. für eine Verwendung mit Auswirkungen auf die physische Realität). Um zu vermeiden, dass für nicht patentierbare Gegenstände Patentschutz gewährt wird, muss diese weitere Verwendung zumindest implizit im Anspruch angegeben sein. Dasselbe gilt für etwaige Anpassungen des Computers oder seiner Funktionsweise. Dieselben Überlegungen gelten auch für Simulationen, die als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht werden.
Ob eine Simulation zum technischen Charakter des beanspruchten Gegenstands beiträgt, hängt nicht von der Qualität des zugrunde liegenden Modells ab oder von dem Grad, in dem die Simulation die "Realität" abbildet. Die Genauigkeit der Simulation ist jedoch ein Faktor, der eine über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgehende technische Wirkung beeinflussen und daher bei der Beurteilung nach Artikel 56 EPÜ (s. auch T 489/14 vom 26.11.2021) Berücksichtigung finden kann.
Eine Simulation beruht zwangsläufig auf den technischen Prinzipien, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen. Selbst wenn diese Prinzipien als technisch beschrieben werden können, hat die Simulation nicht zwangsläufig einen technischen Charakter. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass es weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung ist, dass eine numerische Simulation zumindest teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen.
In ihrer Entscheidung setzte sich die Große Beschwerdekammer auch mit der Entscheidung T 1227/05 auseinander. In T 1227/05 (ABl. 2007, 574) betraf die Anmeldung ein computergestütztes Verfahren mit mathematischen Schritten zur Simulation des Verhaltens eines Schaltkreises unter dem Einfluss von 1/f Rauschen. Die Lösung beruhte auf der Erkenntnis, dass ein 1/f-Rauschen simuliert werden kann, indem in das Schaltkreismodell geeignete Zufallszahlen eingespeist werden. Nach Auffassung der dortigen Kammer ermöglichten die einfache Erzeugung der Zufallszahlen und die Möglichkeit, sie separat vor Beginn der Schaltkreissimulation zu berechnen, eine ressourcenschonende Computersimulation. Bei ihrer Analyse nach Art. 56 EPÜ wandte die Kammer ausdrücklich den COMVIK-Ansatz an und befand, dass die Simulation eines Schaltkreises, der 1/f-Rauscheinflüssen unterworfen ist, einen hinreichend bestimmten technischen Zweck einer computerimplementierten Erfindung darstellte, "sofern sichergestellt ist, dass das Verfahren auf den technischen Zweck funktional beschränkt ist". In Anbetracht der funktionalen Beschränkung des Verfahrens auf die Simulation eines rauschbehafteten Schaltkreises kam sie zu dem Schluss, dass eine solche Simulation als funktionales technisches Merkmal gelten konnte. Außerdem stellte sie klar, dass die Metaangabe eines (unbestimmten) technischen Zwecks nicht als ausreichend gelten kann.
In G 1/19 stellte die Große Beschwerdekammer in Bezug auf T 1227/05 fest, dass berechnete numerische Daten, die das physische Verhalten eines in einem Computer modellierten Systems widerspiegeln, nach dem COMVIK-Ansatz normalerweise nicht den technischen Charakter einer Erfindung begründen können, selbst wenn das berechnete Verhalten das Verhalten des der Simulation zugrunde liegenden realen Systems adäquat widerspiegelt. Solche berechneten Wirkungen können nur in Ausnahmefällen als implizite technische Wirkungen angesehen werden (z. B. wenn sich die potenzielle Verwendung solcher Daten auf technische Zwecke beschränkt). Die Große Beschwerdekammer bezeichnete es jedoch nicht als ihre Aufgabe, die Entscheidung T 1227/05 neu zu bewerten, die in Bezug auf die konkreten Umstände des Einzelfalls getroffen worden sei. Auch habe sich die Kammer in T 1227/05 bei ihrer Entscheidung nicht allein auf ihre Feststellung gestützt, dass das simulierte System ein technisches System war und nur durch entsprechende technische Überlegungen zu verstehen und zu modellieren war.
Die Große Beschwerdekammer in G 1/19 verwies auch auf die Entscheidung T 625/11, die ein Verfahren zur Ermittlung mindestens eines Grenzwerts für mindestens einen Betriebsparameter eines Kernreaktors mittels eines Computersystems betraf, wobei das Verfahren einen Simulationsschritt umfasste und numerische Werte für einen oder mehrere Grenzwerte lieferte, z. B. für die Gesamtleistung P des Reaktors. Die Kammer in T 625/11 gelangte zu dem Ergebnis, dass die relevanten Fragen dieselben wie in T 1227/05 waren, und folgte letztlich den dortigen Schlussfolgerungen, indem sie bejahte, dass die berechneten Grenzwerte für den Betrieb eines Kernreaktors der Erfindung technischen Charakter verliehen. Die Große Beschwerdekammer stimmte mit den Feststellungen in T 1227/05 und T 625/11 überein, wenn sie so verstanden werden, dass die beanspruchten Simulationsverfahren in diesen konkreten Fällen eine dem Wesen nach technische Funktion besitzen. Bei der Betrachtung potenzieller oder lediglich berechneter technischer Wirkungen allerdings gelten nach dem COMVIK-Ansatz eher strikte Beschränkungen. Das viel zitierte Kriterium aus T 1227/05, wonach die Simulation einen hinreichend bestimmten technischen Zweck für ein numerisches Simulationsverfahren darstellt, wenn Letzteres auf diesen technischen Zweck funktional beschränkt ist, sollte nicht als ein allgemein geltendes Kriterium des COMVIK-Ansatzes für computerimplementierte Simulationen verstanden werden, denn die Feststellungen in T 1227/05 beruhten auf konkreten, eben nicht allgemeingültigen Umständen.
Die Große Beschwerdekammer in G 1/19 verwies außerdem auf T 1265/09. Diese Entscheidung betraf computerimplementierte Verfahren zum Bestimmen eines effizienten Einsatzplans für mehrere eingeplante Bearbeiter in einem Telefon-Callcenter. Die Wirkung eines effizienten Einsatzplans wurde als Geschäftsziel eingestuft, das nicht zwangsläufig technische Wirkungen implizierte. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass sowohl in T 1265/09 als auch in T 531/09 die negative Beurteilung nach Art. 56 EPÜ mit dem Fehlen einer durch die Simulation erzeugten technischen Wirkung begründet worden ist (oder hätte begründet werden können) und nicht mit der nichttechnischen Natur des simulierten Systems.