1.2. Anwendung der Auslegungsregeln
Die Große Beschwerdekammer erklärte, dass eine solche "dynamische Auslegung" zum Tragen kommen könnte, wenn sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben haben, die Grund zu der Annahme geben könnten, eine dem Wortlaut getreue Auslegung der einschlägigen Vorschrift würde in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen stehen. Weitere Überlegungen dienen der Überprüfung, inwieweit die Schlussfolgerungen, zu denen sie bei der Auslegung des Anwendungsbereichs des Verfahrensausschlusses nach Art. 53 b) EPÜ gelangt ist, rechtlich fundiert sind. Die Große Beschwerdekammer schloss, dass das Konzept einer dynamischen Auslegung keine Revision des Auslegungsergebnisses erfordert, das mittels herkömmlicher Auslegungsregeln erzielt wurde (G 2/12, ABl. 2016, A27, auch zitiert in T 1063/18). In G 3/19 entschied die Große Beschwerdekammer hingegen, dass die dynamische Auslegung aufgrund der (nach G 2/12 erfolgten) Aufnahme der R. 28 (2) EPÜ, die einer eindeutigen Absicht der Vertragsstaaten entspricht, dazu führt, dass die in G 2/12 getroffene Auslegung des Art. 53 b) EPÜ (ohne Rückwirkung) aufzugeben ist.
Laut G 3/19 führt die Anwendung der verschiedenen Auslegungsmethoden nach Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens, bei der auch die späteren Entwicklungen in den Vertragsstaaten berücksichtigt werden, nicht zu der Feststellung, dass der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" in Art. 53 b) EPÜ klar und eindeutig so zu verstehen wäre, dass er sich auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder gewonnen werden. Die Große Beschwerdekammer bestätigte daher ihre diesbezüglichen Schlussfolgerungen in G 2/12. Gleichzeitig räumte sie jedoch ein, dass Art. 53 b) EPÜ einem solchen umfassenderen Verständnis des Verfahrensausschlusses auch nicht entgegensteht. Außerdem erkannte sie an, dass sich die der Entscheidung G 2/12 zugrunde liegende Rechts- und Sachlage mit dem Erlass der R. 28 (2) EPÜ wesentlich geändert hat. Diese Änderung stellt einen neuen Aspekt oder Gesichtspunkt dar, der sich seit der Unterzeichnung des EPÜ ergeben hat und Grund zu der Annahme geben kann, dass eine grammatische und restriktive Auslegung des Wortlauts des Artikels 53 b) EPÜ in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen steht, während eine dynamische Auslegung zu einem vom Wortlaut der Vorschrift abweichenden Ergebnis führen könnte.
Zur Auslegung von Art. 116 EPÜ befand die Kammer in T 2320/16 (Mündliche Verhandlungen per Videokonferenz) es nicht für notwendig, dass die Kammer nach weiteren Auslegungsmitteln sucht. Art. 125 EPÜ betreffe nicht die Auslegung des EPÜ, sondern regle lediglich das Vorgehen im Falle fehlender Vorschriften über das Verfahren (G 2/12, Nr. V (1) der Gründe). Da Art. 116 EPÜ keine Beschränkung auf eine bestimmte Form der mündlichen Verhandlung auferlege, gebe es keine zu füllende Lücke. Hinsichtlich einer "dynamischen" Auslegung des Art. 116 EPÜ vertrat die Kammer die Ansicht, dass dies ein weiterer Ansatz bei der Auslegung u. a. eines Rechtsbegriffs des EPÜ sei (unter Verweis auf G 3/19, Nr. XXII der Gründe; G 2/12 Nr. VIII (2) 1. (1) der Gründe; G 3/98, Nr. 2.5 der Gründe). Nach Auffassung der Kammer stehen mündliche Verhandlungen per Videokonferenz sowohl mit der wörtlichen Auslegung des Art. 116 EPÜ 1973 und 2000 als auch mit der ihm zugrunde liegenden gesetzgeberischen Absicht in Einklang. Es stelle sich deshalb nicht die Frage, ob eine dynamische Auslegung des Art. 116 EPÜ zum Tragen kommen könnte. Siehe auch G 1/21 vom 16. Juli 2021 date: 2021-07-16 (ABl. 2022, A49) und die Vorlageentscheidung T 1807/15 date: 2021-03-12, in der unter Verweis auf G 3/19 eine dynamische Auslegung erwogen wird.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”