3.6. Rügepflicht
Overview
Gemäß R. 106 EPÜ ist ein Antrag nach Art. 112a (2) a) bis d) EPÜ nur zulässig, wenn der Verfahrensmangel während des Beschwerdeverfahrens beanstandet wurde und die Beschwerdekammer den Einwand zurückgewiesen hat, es sei denn, der Einwand konnte nicht erhoben werden.
- R 6/22
Catchword:
In a situation such as the present case - where the board does not react in a recognisable and explicit manner to an intended objection under Rule 106 EPC - a diligent party should normally insist on a discernible response from the board. Failure to do so will leave the party with an indication that weighs against its case (Reasons 16).
- T 1690/22
Zusammenfassung
In T 1690/22 wendete sich die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) mit ihrer ersten Rüge gemäß R. 106 EPÜ gegen die Nichtzulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 als schweren Verfahrensfehler in Gestalt einer Verletzung des rechtlichen Gehörs. Sie sei in ihren grundlegenden Rechten beschnitten worden, sich gegen die Einspruchsgründe zur Wehr zu setzen. Sie gab auch an, dass die Nichtzulassung der Hilfsanträge nicht durch das Übereinkommen oder die Verfahrensordnung gestützt sei.
Die Beschwerdekammer stellte zunächst klar, dass die Nichtzulassung als solche keinen wesentlichen Verfahrensfehler darstelle. Sie erklärte sodann, dass ein Verfahrensfehler im Sinne von Art. 112a (2) c) EPÜ in Gestalt einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 113 (1) EPÜ, wie von der Beschwerdegegnerin gerügt, nicht ersichtlich sei. Die Entscheidung über die Nichtzulassung sei auf das Übereinkommen und die geltende Verfahrensordnung gestützt und folge einer langjährigen als gefestigt zu erachtenden Rechtsprechung. Allein der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin zu dieser Rechtsanwendung "ausdrücklich" eine gegenteilige Auffassung vertritt, könne jedenfalls keinen schwerwiegenden Verfahrensfehler, respektive keine Gehörsverletzung, begründen.
Zu dem strittigen Punkt der Substantiierung und der Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 habe die Beschwerdegegnerin von den ihr jeweils gebotenen Möglichkeiten, sich zu äußern, ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Kammer sei unter Berücksichtigung der von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente zu der Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu Art. 12 (3) VOBK und zu der nachfolgenden Ermessensbeurteilung im Rahmen des Art. 12 (5) VOBK gelangt. Das rechtliche Gehör der Beschwerdegegnerin sei insoweit gewahrt worden. Ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ im Sinne von Art. 112a (2) c) EPÜ war daher für die Kammer nicht ersichtlich.
Mit einer zweiten Rüge hatte die Beschwerdegegnerin vorgebracht, dass sie ihre erste Rüge zur Nichtzulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 nicht schriftlich vorzulegen brauche und die Aufforderung der Kammer zur Vorlage einer schriftlichen Rüge daher einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle. Die Kammer stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin nicht erklärt hatte, welcher der in Art. 112a (2) a) bis d) und R. 104 EPÜ abschließend normierten Gründe für einen Überprüfungsantrag geltend gemacht werden sollte. Der Kammer zufolge war es ebenso wenig ersichtlich, dass einer dieser Gründe hier einschlägig sein könnte.
Die Kammer erinnerte daran, dass es der Sinn und Zweck der Rügeobliegenheit nach R. 106 EPÜ ist, der Kammer die Möglichkeit zu geben, unmittelbar und angemessen zu reagieren. Daher muss eine Rüge nach R. 106 EPÜ eindeutig erkennen lassen, welche der in Art. 112a (2) a) bis d) und R. 104 EPÜ aufgeführten Mängel geltend gemacht werden sollen (ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, siehe z.B. R 4/08).
Gerade vor dem Hintergrund dieses Zwecks der Rügeobliegenheit war die Kammer der Auffassung, dass die schriftliche Einreichung einer Rüge einer Praxis entspreche, die es ermögliche, den Umfang dieser Rüge klar zu bestimmen. Es schriftlich oder nur mündlich zu tun, ändere nichts an der Substanz der erhobenen Rüge. Die schriftliche Vorlage des Gegenstands einer Rüge ermögliche es jedoch, für die Kammer und die Beteiligten nachvollziehbar festzuhalten, worüber die Kammer zu entscheiden hatte, und sicherzustellen, dass in einem möglichen Überprüfungsverfahren keine Unsicherheiten über die von der rügenden Beteiligten beabsichtigte Formulierung der Rüge bestehen.
Die Kammer ergänzte hierzu, dass zum wesentlichen Gang der mündlichen Verhandlung, der nach R. 124 (1) EPÜ in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen ist, der Umstand als solcher gehören könne, dass eine Rüge nach R. 106 EPÜ erhoben wurde, nicht aber die dazu von der jeweiligen Beteiligten vorgebrachten und für die Zulässigkeit der Rüge erforderlichen Gründe und Argumente. Vielmehr sei es Sache der Beteiligten, Erklärungen und Begründungen zu ihren Anträgen schriftlich einzureichen.
Es war für die Kammer vorliegend nicht erkennbar, worin in der Aufforderung zur schriftlichen Formulierung der Rüge ein möglicher Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ liegen sollte. Die erste und zweite Rüge der Beschwerdegegnerin wurden folglich zurückgewiesen.