4.4. Artikel 112a (2) d) EPÜ – sonstiger schwerwiegender Verfahrensmangel
Nach R. 104 b) EPÜ kann ein schwerwiegender Verfahrensmangel nach Art. 112a (2) d) EPÜ vorliegen, wenn die Kammer über die Beschwerde entschieden hat, ohne über einen hierfür relevanten Antrag zu entscheiden. Wie R. 104 a) EPÜ (s. dieses Kapitel V.B.4.4.1) ist auch R. 104 b) EPÜ eine Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (R 21/11).
In R 19/10 erkannte die Kammer an, dass der Begriff "Antrag" im EPÜ nicht ausdrücklich definiert ist. Nach gängiger Praxis in den Verfahren vor dem EPA sind Anträge aber im Allgemeinen auf die von den Beteiligten begehrten Rechtsfolgen gerichtet. Die von einer Partei vorgebrachten Argumente zur Stützung der von ihr begehrten Rechtsfolgen gehören in der Regel nicht zu ihren rechtsverbindlichen Anträgen (s. auch R 17/11). In R 3/14 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass nur Anträge, die schriftlich gestellt oder von der Partei in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegeben wurden, unter R. 104 b) EPÜ fallen (s. auch Travaux préparatoires, CA/PL 5/02 rev. 1 Add. 1, S. 27). In R 19/10 hielt die Kammer ferner fest, dass es nicht zu den verfahrensrechtlichen Pflichten der Beschwerdekammern nach R. 104 b) EPÜ gehört, das Vorbringen der Beteiligten auf mögliche Anträge hin zu prüfen, die von diesen nicht ausdrücklich gestellt wurden (s. auch R 17/11).
Ein für die Entscheidung relevanter Antrag im Sinne der R. 104 b) EPÜ ist ein Antrag, der möglicherweise zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (R 21/11).
In den zu prüfenden Verfahren in R 17/13 beantragte der Antragsteller aufgrund wesentlicher Verfahrensmängel eine Zurückverweisung der Sache und eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr, alternativ Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung, und schließlich eine mündliche Verhandlung. Die Kammer hielt eine mündliche Verhandlung ab und lehnte den Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents und Rückzahlung der Beschwerdegebühr ab. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer war der Antrag des Antragstellers auf Zurückverweisung nur im Fall eines wesentlichen Verfahrensmangels relevant, der für nicht gegeben befunden wurde.
In R 15/09 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass eine Entscheidung, ein Patent zu widerrufen, notwendigerweise die Zurückweisung sämtlicher Hilfsanträge beinhaltet.
In dem in R 13/14 überprüften Beschwerdeverfahren hatte der Beschwerdeführer beantragt, die Zurückweisung seines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung in München statt in Den Haag aufzuheben. Die Kammer hatte in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass sie nicht befugt sei, über diesen Antrag zu entscheiden. Die Große Beschwerdekammer hielt fest, dass diese Ausführungen – wenngleich nicht in der üblichen und formalen Terminologie gehalten – als Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers anzusehen seien.
In R 10/08 (s. auch R 6/14) verwies die Große Beschwerdekammer auf G 12/91 (ABl. 1994, 285) und stellte fest, dass der letztmögliche Zeitpunkt für ein Eingreifen nicht der Moment der Verkündung der Entscheidung ist, sondern der Moment, in dem der Vorsitzende die sachliche Debatte für beendet erklärt und die Kammer sich zur Beratung zurückzieht. Der Antragsteller hätte dann beantragen müssen, die sachliche Debatte wieder zu eröffnen, wenn er einen weiteren Antrag einreichen wollte. Ob der Antragsteller während oder nach der Entscheidungsverkündung eingegriffen hat, ist irrelevant.
In R 11/08 wies die Große Beschwerdekammer das Vorbringen des Antragstellers zurück, die Kammer habe über einen allgemeinen Antrag nicht entschieden, der nicht hinreichend bestimmt war.
In R 16/14 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Behauptung des Antragstellers, der bedingte Antrag (iii) sei für die schriftliche Begründung der zu prüfenden Entscheidung wieder relevant geworden und hätte Gegenstand einer Entscheidung sein sollen, nicht stichhaltig war, weil die Bedingung nicht erfüllt war, die dem bedingten Antrag (iii) in dem zu prüfenden Verfahren zugrunde lag, nämlich die Auffassung der Beschwerdekammer, dass eine Prüfungsabteilung von einem Anmelder vorgebrachte Argumente ignorieren konnte. Die Kammer gelangte folglich zu dem Schluss, dass der Antrag wegen Verletzung von R. 104 b) EPÜ zurückzuweisen ist.
In R 14/10 bestätigte die Große Beschwerdekammer, dass ein Spruchkörper verpflichtet ist, einen Beteiligten vor den Beratungen um Klarstellung zu bitten, wenn sein Antrag unklar erscheint (s. auch R 7/14). Wenn jedoch die vom Vorsitzenden nach Art. 15 (5) VOBK 2007 verlesenen Anträge nicht der Absicht eines Beteiligten entsprechen, liegt es an ihm, in diesem Augenblick einzugreifen. In R 12/14 wies die Große Beschwerdekammer auf Folgendes hin: Wenn ein Beteiligter schriftliche Anträge einreicht, die die Kammer zu Recht als abschließende Anträge des Beteiligten gemäß Art. 15 (5) VOBK 2007 betrachten kann, kann die Kammer auch sicher davon ausgehen, dass diese Anträge vollständig sind.