1. Rechtlicher Status der Beschwerdekammern des EPA
Die Verfahren vor den Beschwerdekammern sind eigenständig, und die Entscheidungen der nationalen Gerichte haben keine Rechtskraft (s. R 21/09, sehr ausführlich in dieser Frage, sowie z. B. zum Verhältnis zwischen nationaler Rechtsprechung und Entscheidung der Beschwerdekammern: T 1904/12, T 885/02, T 202/13, T 231/13, T 488/16).
In T 2220/14 wurde an das Verhältnis zwischen nationalen Entscheidungen und den Verfahren vor den Beschwerdekammern erinnert. In Letzteren darf über Fragen der Patentierbarkeit allein auf der Grundlage des EPÜ entschieden werden. Was Entscheidungen zur Patentierbarkeit in EPÜ-Vertragsstaaten betrifft, so dürfen diese nicht als für die Beschwerdekammern verbindlich zitiert werden, und Patentansprüche dürfen nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass ihre Patentfähigkeit nach dem Recht eines Mitgliedstaats keinen Bestand hat (T 452/91). Solche Überlegungen gelten auch für Entscheidungen von Gerichten aus Nichtmitgliedstaaten wie etwa den USA (Nr. 16 der Gründe).
Laut J 14/19 (Aussetzung des Erteilungsverfahrens - Zeitpunkt der Rechtshängigkeit eines nationalen Verfahrens) ist die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit nach dem (nationalen) Verfahrensrecht des betreffenden Staates zu beurteilen. Bei der Anwendung fremden Rechts (hier deutsches Recht) muss das EPA dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das EPA als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden (zur fehlenden Bindungswirkung der Rechtsprechung des EuGH vgl. R 1/10, Nr. 2 der Gründe). Sofern dem EPA bekannt, sollte insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden. Gesetzeskommentare sind keine amtlichen Veröffentlichungen und gehören weder zum durch Rechtsetzung entstandenen Recht noch zur Rechtsprechung. Für sich genommen sind sie bei der Anwendung fremden Rechts durch das EPA daher nicht zu berücksichtigen. Zur Auslegung des Begriffs "Rechtshängigkeit" merkte die Juristische Kammer außerdem an, dass im Sinne eines einheitlichen europäischen Rechtsverständnisses die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 21 EuGVÜ - der Artikel 8 des Anerkennungsprotokolls inhaltlich entspricht und diesem zeitlich vorausgeht - unterstützend herangezogen werden kann. Auch diesbezüglich ist der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit für jedes Gericht nach seinem jeweiligen nationalen Verfahrensrecht zu beurteilen (EuGH, Rs. 129/83).