3. Zulässigkeit
In G 5/91 (ABl. 1992, 617) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass trotz der Beschränkung der Anwendbarkeit des Art. 24 (3) EPÜ 1973 auf das Beschwerdeverfahren eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit auch in der ersten Instanz unberücksichtigt bleiben kann, wenn der Beteiligte diese nicht sofort erklärt, nachdem ihm der Ablehnungsgrund bewusst geworden ist (oder wenn die Ablehnung aus Gründen der Nationalität erfolgt). Ansonsten würden Missbräuche ermöglicht.
In T 568/17 entschied die Kammer unter Berufung auf G 1/91, dass der Beschwerdeführer, wenn er die Zusammensetzung der Prüfungsabteilung wegen früherer Handlungen eines ihrer Prüfer in der internationalen Phase hätte anfechten wollen, dies in der europäischen Phase hätte tun müssen, als er von der Zusammensetzung erfuhr.
In T 49/11 hatte der Beschwerdegegner nach Erhalt der Ladung, in welcher den Beteiligten die Zusammensetzung der Kammer bekanntgegeben wurde, und vor Stellung des Ablehnungsantrags bei der Kammer zwei Schreiben eingereicht. Im ersten Schreiben bekundete er seine Absicht, sich in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch zu äußern. Die Kammer stellte fest, dass eine solche Erklärung sich in der mündlichen Verhandlung einer anderen Amtssprache zu bedienen als der Verfahrenssprache, eine Verfahrenshandlung im Sinne des Art. 24 (3) Satz 2 EPÜ darstellt, weil sie nach R. 4 (1) EPÜ in Form einer förmlichen Mitteilung abgegeben werden muss. Der Ablehnungsantrag wurde daher als unzulässig zurückgewiesen. Nach einer Analyse des Wortlauts von Art. 24 (3) Satz 2 EPÜ in den drei Amtssprachen (Art. 177 (1) EPÜ), des Unterschieds zwischen Art. 24 EPÜ 2000 und Art. 24 EPÜ 1973 sowie der Übergangsbestimmungen des EPÜ 2000, stellte die Kammer fest, dass sie sowohl nach dem alten wie auch nach dem neuen Wortlaut von Art. 24 (3) EPÜ zu demselben Ergebnis gelangt wäre.
In T 1677/11 stellte die Kammer fest, dass die Beschwerdegegner schon zu Beginn dieses Beschwerdeverfahrens von der eng verwandten parallelen Beschwerde T 1760/11 vom 16. November 2012 date: 2012-11-16 Kenntnis hatten, die eine Woche vorher von einer Kammer in identischer Besetzung entschieden worden war. Doch erst nachdem im ersten Fall eine abschlägige Entscheidung ergangen war, erklärten die betreffenden Beschwerdegegner im vorliegenden Fall ihre Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit. Die Kammer befand, dass unabhängig davon, ob die Beschwerdegegner im vorliegenden Fall eine bestimmte Verfahrenshandlung vorgenommen hatten, sie haben ihre Ablehnung nicht sofort erklärt, nachdem ihnen die Ablehnungsgründe bewusst geworden sind. In Anbetracht der Tatsache, dass die abgegebene Erklärung mit beiden Beschwerden in Zusammenhang stand, musste die Anwesenheit bei der mündlichen Verhandlung in der Sache T 1760/11 date: 2012-11-16 nach Auffassung der Kammer als Verfahrenshandlung im Rahmen des vorliegenden Falls im Sinne von Art. 24 (3) EPÜ gesehen werden. Daher wurde die Ablehnung nach Art. 24 (3) EPÜ als unzulässig zurückgewiesen.
In T 1020/06 vom 15. Mai 2009 date: 2009-05-15 entschied die Kammer, dass ein Ablehnungsantrag durch die Einreichung neuer Anträge nach Beginn des Verfahrens gemäß Art. 24 (4) EPÜ 1973 nicht unzulässig wird.
In T 49/15 konnte die Kammer dem Argument des Beschwerdegegners 4 nicht folgen, wonach die Zulassung des neuen Hauptantrags in das Verfahren eine notwendige Voraussetzung für den Ablehnungsantrag gewesen sei, da erst durch diese Entscheidung die Begünstigung des Beschwerdeführers erfolgt ist. Der Ablehnungsgrund der Besorgnis der Befangenheit existiert nicht erst, wenn ein Beteiligter durch die Entscheidung der Kammer beschwert wurde.
In G 1/21 vom 28. Mai 2021 date: 2021-05-28 befand die Große Beschwerdekammer, dass der dritte Einwand des Beschwerdeführers zu spät erhoben worden war und somit unzulässig war. Der Beschwerdeführer hatte wie folgt argumentiert: Nachdem in der ersten Zwischenentscheidung entschieden worden sei, dass hinsichtlich des Vorsitzenden und eines weiteren Mitgliedes der Großen Beschwerdekammer Besorgnis der Befangenheit gegeben sei, seien die übrigen Mitglieder, die ebenfalls der ursprünglichen Besetzung angehört hatten, durch deren Voreingenommenheit "infiziert", weswegen die Besorgnis der Befangenheit auch für sie gelte. Die Große Beschwerdekammer erklärte, dass das Risiko einer "Infektion" hauptsächlich vor Erhebung des ersten Einwands bestehen habe können und die darauf abstellende Einwand folglich damals hätte vorgebracht werden sollen. Die Großen Beschwerdekammer fand es nicht glaubhaft, dass sich die Besorgnis einer Einflussnahme auf die anderen Mitglieder erst eingestellt habe, nachdem sie den Einwand des Beschwerdeführers gegen den Vorsitzenden für gerechtfertigt erachtet hatte. Die Einwände 2 und 4 befand die Große Beschwerdekammer ebenfalls für zu spät erhoben und somit unzulässig. Beide beruhten auf Umständen, die von Beginn des Vorlageverfahrens an bekannt waren und daher spätestens bei Erhebung des ersten Einwands hätten vorgebracht werden können und müssen.
- R 12/22
Zusammenfassung
In R 12/22 machte die Antragstellerin in ihrem Antrag auf Überprüfung mehrere schwerwiegende Verfahrensmängel geltend, unter anderem, dass die kurzfristige Ersetzung des juristischen Mitglieds im vorliegenden Fall ihr Recht auf rechtliches Gehör unter folgenden Aspekten verletze: (a) mangels Möglichkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 24 EPÜ im Hinblick auf das neue Mitglied zu untersuchen, (b) wegen fehlender ausreichender Vorbereitungsmöglichkeit des umfangreichen Falles für das neue Mitglied, (c) wegen fehlender Möglichkeit der Stellungnahme der Antragstellerin zur kurzfristigen Ersetzung vor der mündlichen Verhandlung.
Zu (a) stellte die Große Beschwerdekammer (GBK) fest, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Recht umfassen kann, Informationen zu erhalten, um das Recht zu wahren, das neue Kammermitglied gegebenenfalls nach Art. 24 EPÜ abzulehnen. Das Vorbringen der Antragstellerin, sie hätte das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 24 EPÜ wegen der Kürze der Zeit nicht überprüfen können, überzeugte die GBK jedoch nicht, da die Antragstellerin diese Überprüfung in der mündlichen Verhandlung durch Fragen zu der Thematik an das betroffene Kammermitglied hätte nachholen können. Zudem hatte die Antragstellerin in ihrem Überprüfungsantrag auf keinen denkbaren Verstoß gegen Art. 24 EPÜ hingewiesen, so dass die GBK auch keinen derartigen Sachvortrag auf einen denkbaren Gehörsverstoß überprüfen konnte. Die Antragstellerin hatte zudem argumentiert, dass – auch wenn auf freiwilliger Basis eine Auskunft über ein Kammermitglied erteilt worden wäre – diese in der Kürze der Zeit nicht objektiv nachprüfbar gewesen wäre. Die GBK war von diesem Vortrag nicht überzeugt. Ein Auskunftsrecht bestand nach ihrer Auffassung nur über Umstände, die geeignet sein könnten, eine Ablehnung zu begründen, nicht aber über die Vorbereitung eines Mitglieds auf die mündliche Verhandlung in einem konkreten Fall, da dies mit seiner Unabhängigkeit nicht vereinbar wäre. Ferner müsse es zur Vermeidung der Verzögerung von Verfahren möglich sein, auch kurzfristig eine Kammer im Einklang mit Art. 2 VOBK umzubesetzen. Es reiche aus, dass den Beteiligten die Möglichkeit der Ablehnung eines Mitglieds nach Art. 24 (3) EPÜ wegen eines Ausschließungsgrundes oder wegen Besorgnis der Befangenheit zustehe.
Zu (b), stellte die GBK fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folgt, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen. Insbesondere müsse das Mitglied seine Pflichten nach eigenem Gutdünken erledigen können. Die GBK stimmte der folgenden Passage aus R 5/19 zu: "bis zum Beweis des Gegenteils in einem konkreten Fall [kann] davon ausgegangen werden [...], dass Mitglieder von Beschwerdekammern generell ihre Amtspflichten korrekt ausüben [...]."
Auch hinsichtlich (c), d.h. der fehlenden Möglichkeit sich vor der mündlichen Verhandlung zur kurzfristigen Ersetzung zu äußern, sah die GBK keine Bedenken hinsichtlich der Wahrung des rechtlichen Gehörs in einer solchen Situation.
In der mündlichen Verhandlung vor der GBK, machte die Antragstellerin die kurzfristige Ersetzung des juristischen Mitglieds erstmals auch als Gehörsverstoß unter einem weiteren Gesichtspunkt, nämlich demjenigen eines Verstoßes gegen ein "Recht auf den gesetzlichen Richter" geltend. Die GBK stellte fest, dass ein solches Recht im EPÜ und den dieses ergänzenden Vorschriften, insbesondere denjenigen der VOBK, nicht geregelt ist. Art. 2 VOBK regelt Ausnahmen vom Geschäftsverteilungsplan, nämlich die Ersetzung von Mitgliedern bei Verhinderung an der Mitwirkung. Ähnlich wie im Fall des geltend gemachten Informationsrechts betreffend Art. 24 EPÜ hatte die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer ein Recht auf den gesetzlichen Richter nicht geltend gemacht. Sie hatte explizit lediglich die Kurzfristigkeit der Umbesetzung und die damit angeblich verbundene zu knappe Vorbereitungszeit für das neue Mitglied sowie das Fehlen einer Möglichkeit zur Stellungnahme zur Ersetzung vor der mündlichen Verhandlung beanstandet. Das Nichtvorliegen einer Ausnahme nach Art. 2 VOBK hatte die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung nicht geltend gemacht. Daher entschied die GBK, diesen neu geltend gemachten Gehörsverstoß durch Verletzung eines Rechts auf den gesetzlichen Richter als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”