2.3.1 Artikel 123 (3) EPÜ und Artikel 69 EPÜ
In T 177/08 verwies die Kammer bezüglich Art. 123 (3) EPÜ auf Art. 69 (1) Satz 2 EPÜ, wonach die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen sind. Es stelle sich die Frage, ob eine solche Auslegung der Ansprüche anhand des Inhalts der Beschreibung auf Fälle beschränkt sei, in denen die Ansprüche auslegungsbedürftig seien, zum Beispiel wegen funktioneller oder unklarer Merkmale, oder ob sie auch im vorliegenden Fall anzuwenden sei, in dem die allgemein bekannte und anerkannte Bedeutung eines Begriffs verworfen und durch eine neue, in der Beschreibung gegebene Definition ersetzt worden sei. Nach Auffassung der Kammer war Art. 69 EPÜ nicht auf Fälle anwendbar, in denen die eindeutige und allgemein anerkannte Definition eines in den Ansprüchen verwendeten Begriffs durch eine andere, in der Beschreibung zu findende Definition ersetzt werden soll. Wenn beabsichtigt sei, einem in keiner Weise auslegungsbedürftigen Begriff eine neue Bedeutung zuzuschreiben, müsse dessen Definition in die Ansprüche aufgenommen werden. Von Dritten könne nicht erwartet werden, dass sie jeden einzelnen Begriff in den Ansprüchen auf eine mögliche abweichende Bedeutung hin prüften, die irgendwo in der Beschreibung verborgen sein könnte.
In T 1172/08 stellte die Kammer fest, Anspruch 1 in der erteilten Fassung und Anspruch 1 des Hauptantrags schützten, wenn man sie für sich genommen lese, unterschiedliche Gegenstände. Der Patentinhaber räumte ein, dass eine derartige Verschiebung des Schutzumfangs normalerweise nicht zulässig sei. Der vorliegende Fall sei jedoch ganz besonders, weil die erteilten Ansprüche den Gegenstand des einzigen Beispiels der Patentschrift nicht umfassten. Die Kammer bezweifelte nicht, und von den Beteiligten wurde nicht bestritten, dass dendritische Zellen und Monozyten unterschiedliche Zelltypen sind, die sich durch unterschiedliche Merkmale auszeichnen. Um in Anspruch 1 die Auslegung des Patentinhabers hineinzulesen, müsste der Fachmann den Wortlaut des erteilten Anspruchs 1 völlig außer Acht lassen, der per se nicht technisch bedeutungslos sei, mit der Folge, dass der Wortlaut von Anspruch 1 nichts weiter wäre als eine leere Hülse. Dies sei eindeutig weder im Sinne des Art. 69 EPÜ noch im Sinne des Protokolls zu seiner Auslegung. Würde die vom Patentinhaber vorgeschlagene Auslegung zugelassen, bliebe das Interesse Dritter an Rechtssicherheit außerdem völlig außen vor.
In T 2284/09 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) sich auf die Entscheidung T 108/91 (ABl. 1994, 228) gestützt, wonach es bei einem Widerspruch zwischen dem Anspruch und der Gesamtoffenbarung zulässig ist, auf die Beschreibung Bezug zu nehmen und sich nach Art. 69 (1) EPÜ auf die Offenbarung der Beschreibung zu stützen, um den Anspruch zu ändern. T 108/91 war im vorliegenden Fall aber nicht anwendbar, da es zwischen dem Anspruch des erteilten Patents und der Beschreibung keinen Widerspruch gab. Zudem war in G 1/93 (ABl. 1994, 541) entschieden worden, dass es bei einer nicht offenbarten Beschränkung, die (wie im vorliegenden Fall) im Prüfungsverfahren eingeführt wird, nicht zulässig ist, diese zu streichen, wenn dadurch der Schutzbereich erweitert würde. In G 1/93 war auch die Rolle des Art. 69 (1) EPÜ geprüft und dann entschieden worden, dass die Beschreibung insbesondere für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung und für die Ermittlung des Schutzbereichs der Ansprüche heranzuziehen ist. Es gibt aber keine Feststellung in G 1/93, die die Meinung des Beschwerdeführers stützt, dass die Beschreibung als Reservoir genutzt werden könne, aus dem Änderungen der Ansprüche hergeleitet werden können, selbst wenn solche Änderungen gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen würden. Siehe auch T 195/09, in der die Kammer erklärte, dass T 108/91 in dieser Hinsicht durch G 1/93 verworfen wurde.
In T 1736/09 betonte die Kammer, dass es für die Prüfung nach Art. 123 (3) EPÜ irrelevant ist, ob das erteilte Patent den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ oder des Art. 76 (1) EPÜ genügt. S. auch T 2186/12.
In T 1896/11 trug der Beschwerdeführer vor, dass Art. 69 EPÜ Rechnung zu tragen und die Beschreibung zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen sei. Da der durch Anspruch 5 des Patents in der erteilten Fassung verliehene Schutz sich notwendigerweise auf den Inhalt der Beschreibung erstrecke, könne Anspruch 5 ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ so berichtigt werden, dass er deren Inhalt widerspiegle. Die Kammer stellte jedoch fest, dass die Beschreibung im fraglichen Fall nicht herangezogen werden könne, um einem beanspruchten Verfahrensschritt, der als solcher dem Fachmann eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittle, eine andere Bedeutung zu verleihen. Andernfalls könnten sich Dritte nicht auf das verlassen, was tatsächlich im Anspruch stehe. Um festzustellen, ob der beanspruchte Verfahrensschritt als solcher eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittle, müsse geprüft werden, "ob a) der beanspruchte Schritt als solcher technisch gesehen sinnvoll und plausibel sei und b) ob prima facie eine grundsätzliche Unvereinbarkeit mit den übrigen Anspruchsmerkmalen bestehe" (s. T 1202/07). Im vorliegenden Fall war das betreffende Merkmal technisch gesehen sinnvoll und plausibel. Dieser Ansatz wurde beispielsweise in T 626/16 bestätigt.
In T 131/15 betonte die Kammer jedoch, dass für die Frage, ob die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ 1973 erfüllt sind, eine isolierte Betrachtung der Ansprüche nicht ausreicht. Wie vorzugehen ist, ist in G 2/88 (ABl. 1990, 93) unter Bezugnahme auf Art. 69 (1) EPÜ 1973 und das zugehörige Auslegungsprotokoll beschrieben, und in Anbetracht dieser Grundsätze kam die Kammer zu folgendem Schluss: Wenn eine Formulierung in einem erteilten Anspruch bei wörtlicher und isolierter Auslegung bewirkt, dass alle offenbarten Ausführungsformen aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden, sich aber aus dem Patent selbst eine Definition dieser Formulierung herleiten lässt, der zufolge die offenbarten Ausführungsformen (oder zumindest einige davon) unter den Anspruch fallen würden, so sollte der Schutzbereich bei der Beurteilung, ob die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ erfüllt sind, in der Regel so ausgelegt werden, dass er zumindest das umfasst, was gemäß dieser Definition – sofern sie angesichts der normalen Bedeutung der in der Formulierung verwendeten Worte nicht offensichtlich sinnwidrig ist – unter den Anspruch fallen würde.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”