6.2.1 Neuheitsschädliche Vorwegnahme einzelner Verbindungen
In T 181/82 (ABl. 1984, 401) wurde bestätigt, dass aus der Vorbeschreibung von Ausgangsstoffen und Verfahrensweisen zwangsläufig resultierende Verfahrensprodukte zum Stand der Technik gehören. Das gelte auch, wenn einer der beiden Reaktionspartner aus dem bereichsmäßig definierten Stoffkollektiv (C1- bis C4-Alkylbromide) als chemisches Individuum (hier: C1-Alkylbromid) in Erscheinung trete. Die Kammer war jedoch der Auffassung, dass die Beschreibung der Reaktion eines Ausgangsstoffs mit C1- bis C4-Alkylbromid nur das C1-substituierte Produkt offenbare; die Offenbarung eines bestimmten Butyl-Substituenten wurde mit der Begründung nicht anerkannt, dass es vier isomere Butylreste gebe.
Auch in T 7/86 (ABl. 1988, 381) wurden Ausführungen aus T 12/81 (ABl. 1982, 296) aufgegriffen. Der Grundsatz, dass ein Stoff, der durch Umsetzung eines speziellen Paars aus zwei Listen zustande komme, als neu angesehen werden könne, gelte nicht nur für Ausgangsstoffe chemischer Umsetzungen, sondern auch für polysubstituierte chemische Stoffe, bei denen die einzelnen Substituenten wie im vorliegenden Fall aus zwei oder mehr Listen gewissen Umfangs ausgewählt werden müssten.
Im Anschluss an T 181/82 (ABl. 1984, 401) wurde in T 7/86 weiter festgestellt: Wenn eine strukturell (durch eine chemische Umsetzung) genau definierte Klasse chemischer Verbindungen mit nur einem bereichsmäßig definierten Substituenten keine Vorbeschreibung aller durch willkürliche Auswahl einer Substituentendefinition theoretisch möglichen Verbindungen darstelle, so gelte dies umso mehr für eine Gruppe chemischer Stoffe, deren allgemeine Formel zwei variable Gruppen umfasse. Deshalb offenbare eine Klasse chemischer Verbindungen, die nur durch eine allgemeine Strukturformel mit mindestens zwei variablen Gruppen definiert sei, nicht alle Einzelindividuen, die sich aus der Kombination aller möglichen Varianten innerhalb dieser Gruppen ergeben könnten.
In T 258/91 ging es um den Fall einer Auswahl aus zwei Listen von Ausgangsverbindungen. Die Verbindung (Formel VI), die dem Streitpatent als neuheitsschädlich entgegengehalten wurde, unterschied sich von der beanspruchten Verbindung (Formel I) durch den Methylrest an der Aminogruppe in 4-Stellung. Nach Auffassung der Beschwerdekammer reichten diese Informationen nicht aus, um dem Fachmann die Verbindung der Formel I in Form einer konkreten, ausführbaren Lehre zum technischen Handeln zu offenbaren. Die Druckschrift enthalte keine technische Lehre, die nur beispielhaft erwähnte Verbindung zu modifizieren. Gelehrt werde lediglich die Herstellung einer Verbindungsklasse, nicht aber einer bestimmten Einzelverbindung.
In T 658/91 stellte die Kammer fest, dass es nicht der Rechtsprechung der Kammer entspreche, die spezifische Offenbarung einer chemischen Verbindung nur dann anzuerkennen, wenn diese Verbindung ausdrücklich angegeben oder sogar in einem Beispiel beschrieben sei. Vielmehr genüge es, wenn das betreffende Dokument in individualisierter Form auf diese Verbindung hinweise und diese dadurch eindeutig identifizierbar sei, denn Art. 54 (2) EPÜ 1973 bezwecke, den Stand der Technik vom Patentschutz auszuschließen.