8. Der Fachmann
Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist das Wissen des Fachmanns vor dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag maßgebend (s. T 268/89, ABl. 1994, 50 und T 365/89).
Sind bei ein und derselben Erfindung sowohl die ausreichende Offenbarung als auch die erfinderische Tätigkeit zu beurteilen, so ist in beiden Fällen der gleiche Wissensstand zugrunde zu legen (T 60/89, ABl. 1992, 268; T 373/94; T 99/14; T 1861/16; s. auch Kapitel II.C.4.1 "Die Offenbarung ist an einen Fachmann adressiert"). In T 694/92 (ABl. 1997, 408) wurde hinzugefügt, dass für die Zwecke der Art. 56 und Art. 83 EPÜ 1973 derselbe Wissensstand maßgeblich, die jeweilige Ausgangssituation aber eine andere ist: Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist entscheidend, dass der Fachmann nur den Stand der Technik kennt, für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung dagegen, dass er den Stand der Technik und die offenbarte Erfindung kennt.
In T 426/88 (ABl. 1992, 427) stellte die Kammer fest, dass ein allgemeines Lehrbuch über ein großes technisches Gebiet, das auch das spezielle Gebiet der Erfindung umfasst, zum allgemeinen Wissensstand des Fachmanns auf diesem Gebiet gehört. Wenn Bücher, die den allgemeinen Wissensstand repräsentieren, eine grundlegende allgemeine Fachtheorie oder Methodik beschreiben und diese nur auf bestimmten Fachgebieten durch spezielle Anwendungsbeispiele veranschaulichen, werden dadurch der allgemeine Umfang und die Relevanz solcher Offenbarungen nicht so eingeschränkt, dass Anwendungsmöglichkeiten auf anderen Gebieten ausgeschlossen werden. Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass das in deutscher Sprache herausgegebene Buch von den einschlägigen Fachleuten in Großbritannien kaum als Nachschlagewerk benutzt werde. Die Beschwerdekammer hielt sich jedoch an die Definition des Stands der Technik gemäß Art. 54 EPÜ 1973, wonach der Ort, an dem der Fachmann seinen Beruf ausübt, keine Rolle spielt. Auch war sie der Auffassung, dass die Veröffentlichungssprache allein nicht entscheidend für die Zulässigkeit eines Fachbuchs sein kann, das den allgemeinen Wissensstand des Fachmanns repräsentiert (s. auch T 1688/08). Die Kammer in T 2058/18 befand, dass der (technische) Fachmann zwar eine mehrsprachige Person sein kann, in der Regel aber kein Sprachwissenschaftler.
In T 632/10 stellte die Kammer Fogendes fest: Selbst wenn eine Erfindung nur für Fachleute mit deutscher Staatsange-hörigkeit oder deutschem Wohnsitz naheliegend ist, gilt sie bereits damit als nicht erfinderisch im Sinne von Art. 56 EPÜ 1973. Dass die deutsche Signaturverordnung (SigV) nur in Deutschland gilt, ändert nichts an ihrem Status als Stand der Technik und an ihrer Relevanz für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außerhalb Deutschlands.
In T 766/91 betonte die Kammer, dass Informationen in der Regel nicht dadurch zu allgemeinem Fachwissen werden, dass sie in einem bestimmten Handbuch oder Nachschlagewerk veröffentlicht werden, sondern vielmehr erst dann Eingang in Handbücher und Nachschlagewerke finden, wenn sie bereits allgemeines Fachwissen sind. Aus diesem Grunde kann die Veröffentlichung etwa in einer Enzyklopädie oder einem Standardnachschlagewerk in der Regel als Beweis dafür genommen werden, dass eine Information nicht nur bekannt war, sondern zum allgemeinen Fachwissen gehört. Im Verfahren T 378/93 wies die Kammer darauf hin, dass dasselbe für einen Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gilt, die sich hauptsächlich an die Fachwelt richtet und weltweit einen seriösen Ruf genießt. In T 537/90 stellte die Kammer fest, dass in einem relativ kurzen Zeitraum gehäufte Veröffentlichungen von Tagungs- und Forschungsberichten in einschlägigen Fachzeitschriften über die in einer im Durchbruch befindlichen Technik gewonnenen Erkenntnisse das zu dieser Zeit allgemein präsente Fachwissen wiedergeben können.
In T 939/92 (ABl. 1996, 309) wurde ausgeführt, dass der Stand der Technik durchaus auch nur im einschlägigen allgemeinen Fachwissen bestehen könne, das wiederum nicht unbedingt schriftlich in Lehrbüchern oder dergleichen fixiert sein müsse, sondern möglicherweise nur zum ungeschriebenen "geistigen Rüstzeug" des Durchschnittsfachmanns gehöre. Der Umfang des einschlägigen allgemeinen Fachwissens müsse aber im Streitfall durch schriftliche oder mündliche Beweismittel belegt werden.
In T 632/91 stellte die Kammer fest, dass Beweismittel, auch wenn sie keinen Vergleich des beanspruchten Gegenstands mit dem Stand der Technik umfassen, eine Prima-facie-Vermutung widerlegen können, der zufolge ein bestehendes allgemeines Fachwissen dem Fachmann erlaubt hätte, die strukturellen Unterschiede chemischer Verbindungen außer Acht zu lassen.
In T 984/15 erinnerte die Kammer daran, dass das dem fiktiven Fachmann im Sinne des Art. 56 EPÜ zugeschriebene technische Gebiet oder allgemeine Fachwissen ausgehend von der objektiven technischen Aufgabe definiert werden sollte, die dieser Fachmann im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes zu lösen hat, weil nämlich der Fachmann im Sinne des Art. 56 EPÜ derjenige ist, der zur Lösung der so ermittelten objektiven technischen Aufgabe qualifiziert ist (s. z. B. T 32/81, ABl. 1982, 225, T 422/93, ABl. 1997, 25, T 1140/09, T 1523/11, T 1450/16).
In T 1601/15 stellte die Kammer fest, dass der Fachmann keiner Anregung bedarf, um sein Fachwissen zur Anwendung zu bringen. Die Kammer war von dem Argument, dass der Fachmann keinen Anlass gehabt hätte, auf sein Fachwissen zurückzugreifen, nicht überzeugt. Der Fachmann bedarf keines Anlasses, um sein Fachwissen zur Anwendung zu bringen. Sein Fachwissen bildet gewissermaßen den technischen Hintergrund für jede Tätigkeit des Fachmanns und fließt in alle seine Entscheidungen ein. In dieser Hinsicht ist das allgemeine Fachwissen von der Lehre fachspezifischer Druckschriften zu unterscheiden.
In T 206/83 (ABl. 1987, 5) betonte die Kammer, dass Patentschriften in der Regel nicht zum allgemeinen Fachwissen gehören. Auch die Kammer in T 1540/14 war der Meinung, dass der Inhalt von Patentdokumenten in der Regel nicht zum allgemeinen Fachwissen gehört (s. auch T 671/94).
In mehreren Entscheidungen wurde festgestellt, dass ein Nachweis für die Behauptung, dass etwas zum allgemeinen Fachwissen gehört, nur erforderlich ist, wenn dies von einem anderen Beteiligten oder vom EPA infrage gestellt wird (s. z. B. T 766/91, T 234/93). Wird die Behauptung, etwas gehöre zum allgemeinen Fachwissen, bestritten, so ist es an demjenigen, der dies behauptet, zu beweisen, dass der betreffende Gegenstand tatsächlich zum allgemeinen Fachwissen gehört (T 766/91; T 939/92, ABl. 1996, 309; T 329/04; T 941/04; T 690/06).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”