BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 vom 6. Februar 1992 - T 268/89 - 3.2.2
(Amtlicher Text)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. Szabo |
Mitglieder: | P. Dropmann |
| J. van Moer |
Patentinhaber/Beschwerdeführer: Latzke, Arno Walter
Einsprechender/Beschwerdegegner: Pharma Stroschein GmbH
Stichwort: Magnetpflaster/LATZKE
Artikel: 56 EPÜ
Schlagwort: "Aufgabenformulierung bei erst nach dem Anmeldetag erkannter Unwirksamkeit einer bekannten Vorrichtung" - "Erfinderische Tätigkeit (bejaht nach Änderung der Ansprüche)"
Leitsatz
Eine erst nach dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag erkannte oder behauptete Unwirksamkeit einer zum Stand der Technik gehörenden Vorrichtung oder eines solchen Verfahrens kann nicht zur Formulierung der Aufgabe herangezogen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Aufgabe im Sinne einer Aufgabenerfindung (vgl. T 2/83, "Simethicon-Tablette/RIDER", ABl. EPA 1984, 265) als Argument zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit geltend gemacht wird. Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist das Wissen des Fachmanns vor dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag maßgebend (vgl. Nr. 5, 3. Absatz der Entscheidungsgründe).
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 076 354 wurde am 27. August 1986 auf der Basis der am 10. Februar 1982 eingereichten Patentanmeldung Nr. 82 100 942.0 erteilt.
II. Gegen das Patent wurde, gestützt auf Artikel 100 a) und b) EPÜ, ein Einspruch eingelegt mit dem Antrag, das Patent in vollem Umfang zu widerrufen. Der Einspruch stützt sich auf die Druckschriften
(2) DE-U-6 904 160,
(3) DE-U-1 885 256,
(4) DE-A-2 914 904 und
(5) DE-A-3 041 965.
Der Einwand gemäß Artikel 100 b) EPÜ wurde im Laufe des Einspruchsverfahrens zurückgenommen.
III. Mit Entscheidung vom 24. Februar 1989, zur Post gegeben am 7. März 1989, hat die Einspruchsabteilung das Patent mit der Begründung widerrufen, die Gegenstände der erteilten unabhängigen Ansprüche 1 und 10 beruhten gegenüber dem aus den Druckschriften (2) und (5) bekannten Stand der Technik auf keiner erfinderischen Tätigkeit.
IV. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 7. April 1989 unter gleichzeitiger Zahlung der Gebühr eingelegte Beschwerde. Die Beschwerdebegründung ging am 27. Juni 1989 ein und wurde mit Schriftsatz vom 23. November 1989 ergänzt.
V. Mit der Eingabe vom 28. Januar 1992 hat die Beschwerdegegnerin den Einspruch zurückgezogen. Sie ist somit nicht mehr am Verfahren beteiligt.
VI. Im Verlauf der mündlichen Verhandlung vom 6. Februar 1992 vor der Beschwerdekammer hat der Vertreter des Beschwerdeführers neue Ansprüche 1 bis 10 und eine angepaßte Beschreibung vorgelegt.
Die unabhängigen Ansprüche 1 und 10 lauten wie folgt:
"1. Magnetpflaster bestehend aus einer flexiblen, hautverträglichen, permanent magnetisierbaren und magnetisierten Kunststoffolie (b), welche selbstklebend oder mit Hilfe von hautverträglichem, selbstklebendem Pflaster (c) auf der Haut befestigbar ist, dadurch gekennzeichnet, daß die Kunststoffolie (b) 0,2 bis 2 mm stark, abwechselnd positiv und negativ magnetisiert ist und die positiven und negativen Pole einen Abstand von 5 mm voneinander haben und eine magnetische Flußdichte von 40 bis 200 mT aufweisen."
"10. Verwendung von 0,2 bis 5 mm starken, flexiblen, hautverträglichen permanent magnetisierten Kunststoffolien, die abwechselnd positiv und negativ magnetisiert sind und bei denen die positiven und negativen Pole einen Abstand von 5 mm voneinander haben und eine magnetische Flußdichte von 40 bis 200 mT aufweisen, zur Herstellung von selbstklebenden oder mit Hilfe von hautverträglichem selbstklebendem Pflaster auf der Haut befestigbaren Magnetpflastern."
VII. Der Vertreter des Beschwerdeführers verwies zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit der Gegenstände der geänderten Ansprüche insbesondere auf die Ergebnisse der während des Einspruchsverfahrens vorgelegten randomisierten schweizerischen Doppelblindstudie. Diese Studie habe ergeben, daß auf die Haut von Patienten an den schmerzenden Stellen aufgeklebte, abwechselnd positiv und negativ streifenweise magnetisierte Magnetfolien mit 5 mm Polabstand (sogenannte 4-1-4-Magnetisierung, bei der sich 4 mm breite magnetisierte Streifen mit 1 mm breiten Zwischenräumen abwechseln) eine hochsignifikant bessere analgetische Wirkung im Vergleich zu Leerfolien (Plazebo) zeigten.
VIII. Der Beschwerdeführer beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents mit den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Ansprüchen 1 bis 10, der gleichzeitig vorgelegten Beschreibung und den Figuren 1 bis 3 gemäß Patentschrift.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Änderungen
Die geltenden Ansprüche 1 und 10 unterscheiden sich von den entsprechenden erteilten Ansprüchen mit dem Merkmal 4° bis 20° mT u. a. durch das Merkmal 40 bis 200 mT. Diese Änderung stellt die Korrektur eines offensichtlichen Druckfehlers dar und ist im Hinblick auf Regel 88 EPÜ zulässig. Im übrigen folgt der Bereich von 40 bis 200 mT aus Seite 5, Zeile 2 der ursprünglichen Beschreibung.
Der Wert von 5 mm für den Polabstand findet auf Seite 4, Zeilen 29 bis 31 der ursprünglichen Beschreibung seine Stütze. Durch ihn ist der Schutzbereich der erteilten Ansprüche 1 und 10 mit dem Polabstandsbereich von 4 bis 10 mm beschränkt worden.
Mithin verstoßen die geltenden Unterlagen nicht gegen Artikel 123 (2) und (3) EPÜ.
3. Neuheit
Keine der im Verfahren befindlichen Druckschriften offenbart ein Magnetpflaster oder die Verwendung von bestimmten Kunststoffolien zur Herstellung von Magnetpflastern mit sämtlichen im Anspruch 1 bzw. 10 enthaltenen Merkmalen. Die Gegenstände der Ansprüche 1 und 10 sind daher neu.
4. Nächstliegender Stand der Technik
Die dem ersten Teil des Anspruchs 1 zugrundeliegende Druckschrift (2) stellt nach Meinung der Kammer den der Erfindung am nächsten kommenden Stand der Technik dar. Diese Schrift offenbart eine flexible, permanent magnetisierbare und magnetisierte Folie, die mit Hilfe von beispielsweise Haft- oder Klebestreifen auf der Haut befestigbar ist. Die Magnetfolie ist vorzugsweise axial, d. h. senkrecht zur Folienfläche, magnetisiert, wobei die Stärke der Magnetisierung von Punkt zu Punkt unterschiedlich sein kann. Wie aus Seite 1 der Druckschrift (2) hervorgeht, ist die Verwendung stärkerer Permanentmagnete möglich, und es wird durch die Flexibilität der Magnetfolie "der therapeutische Effekt erhöht, weil die gesamte wirksame Fläche sich besser den Körperformen anpaßt und dadurch der gleichbleibende Abstand vom Körperteil zur wirksamen Behandlungsfläche erreicht wird."
5. Aufgabe und Lösung
Die Kammer kann sich der in der Eingabe vom 23. November 1989 auf Seite 2 zum Ausdruck gebrachten Auffassung des Beschwerdeführers nicht anschließen, wonach die Druckschrift (2) nicht geeignet sei, als nächstliegender Stand der Technik zur Bestimmung der objektiven Aufgabe der vorliegenden Erfindung herangezogen zu werden, weil bereits zum Anmeldungszeitpunkt dieser Erfindung hinreichend bekannt gewesen sei, daß die Magnettherapie, so wie sie gemäß der Druckschrift (2) zur Anwendung komme, ohne Wirkung bleibe.
Diese nachträgliche Behauptung steht im Widerspruch zu den Ausführungen des Beschwerdeführers in Spalte 1, Zeile 64 bis Spalte 2, Zeile 5 der Streitpatentschrift, daß die nach der Druckschrift (2) erzielbaren Feldstärken relativ schwach und therapeutisch kaum wirksam seien, womit aber indirekt eine gewisse Wirksamkeit eingeräumt wurde. Zumindest war eine eventuelle vollständige Unwirksamkeit am Prioritäts- bzw. Anmeldetag des Streitpatents nicht erkannt und kann deshalb nachträglich nicht geltend gemacht werden.
Eine erst nach dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag erkannte oder behauptete Unwirksamkeit einer zum Stand der Technik gehörenden Vorrichtung oder eines solchen Verfahrens kann nicht zur Formulierung der Aufgabe herangezogen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Aufgabe im Sinne einer Aufgabenerfindung (vgl. T 2/83, "Simethicon-Tablette/RIDER", ABl. 1984, 265) als Argument zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit geltend gemacht wird. Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist das Wissen des Fachmanns vor dem Prioritäts- bzw. Anmeldetag maßgebend.
Somit kann die Kammer die in der Eingabe vom 26. Juni 1989 auf den Seiten 3 und 6 und in der mündlichen Verhandlung dargelegte Meinung des Beschwerdeführers nicht teilen, daß die objektive Aufgabe in einer völlig neuen Konzeption eines Magnetpflasters liege, dahingehend, daß es tatsächlich wirksam sei.
Vielmehr ist die objektiv aus dem Stand der Technik herleitbare technische Aufgabe darin zu sehen, das aus der Druckschrift (2) bekannte Magnetpflaster hinsichtlich seiner Therapiewirkung wesentlich zu verbessern.
Diese Aufgabe wird durch die Merkmale der Ansprüche 1 bzw. 10 gelöst, wobei dem beanspruchten Polabstand von 5 mm und der magnetischen Flußdichte von 40 bis 200 mT des Wechselmagnetfeldes besondere Bedeutung zukommt, da diese Parameter für die Eindringtiefe der Magnetfelder und die therapeutische Wirkung verantwortlich sind.
6. Erfinderische Tätigkeit
6.1 Die Kammer stimmt den Ausführungen der Einspruchsabteilung in den Paragraphen 4.1 bis 4.3 der angefochtenen Entscheidung zu. Sie ist der Auffassung, daß der Fachmann die Lehre der Druckschrift (5) wegen der dort beschriebenen Verbesserung der Therapiewirkung von mit statischen Magnetfeldern arbeitenden Therapievorrichtungen zur Lösung der vorstehend im Abschnitt 5 genannten Aufgabe in Betracht zieht bei der Behandlung von allgemein mit der Blutzirkulation im Zusammenhang stehenden Beschwerden. Sie sieht es daher als naheliegend an zu versuchen, das auf Seite 10 im ersten Absatz beschriebene und in Figur 11 dargestellte Wechselmagnetfeld mit alternierenden N- und S-Polen wegen der dort ebenfalls offenbarten erheblich verbesserten Stimulationswirkung auf die aus der Druckschrift (2) bekannte Magnetfolie zu übertragen.
Es ist hierbei von Bedeutung, daß der wichtige implizite Informationsgehalt der Druckschrift (5) erst nach experimentellen Untersuchungen erkennbar werden kann. Die Kammer folgt den Betrachtungen der Einspruchsabteilung über die routinemäßige Dimensionierung der die magnetische Flußdichte, die Folienstärke und den Polabstand betreffenden Parameter. Insbesondere akzeptiert sie, daß sich - einerseits im Hinblick auf die Forderung der Druckschrift (5), Seiten 3 und 10, daß der Abstand der Magnetpole größer als ein gegebener Wert sein muß, und andererseits im Hinblick auf die Forderung nach möglichst großer magnetischer Feldstärke - durch routinemäßige Erprobung eine untere und eine obere Grenze für den Polabstand ergeben und daher der im erteilten Anspruch 1 genannte Polabstandsbereich von 4 bis 10 mm als naheliegend angesehen werden kann, wenn es allgemein um die Verbesserung der Heileffekte geht.
6.2 Somit erhebt sich die Frage, ob die spezifische Wahl des bestimmten Wertes von 5 mm für den Polabstand gemäß den geltenden Ansprüchen 1 und 10 dem Gegenstand dieser Ansprüche erfinderische Qualität verleihen kann.
Der Beschwerdeführer hat während der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, daß die erfindungsgemäßen Magnetpflaster mit einem Polabstand von 5 mm eine statistisch hochsignifikante analgetische Wirksamkeit besäßen. Er hat diese Aussage durch Vorlage des Prüfungsprotokolls und der Auswertung einer randomisierten Doppelblindstudie von Magnetfolien mit 5 mm Polabstand belegt. Auch aus den übrigen im Prüfungs- und Einspruchsverfahren vorgelegten Unterlagen geht die Wirksamkeit der erfindungsgemäßen Wechselmagnetfolie, die bei allen Untersuchungen einen Polabstand von 5 mm aufwies, zumindest bei der Behandlung von Schmerzzuständen hervor.
Bei diesem Wert für den Polabstand werden somit ganz spezifische Effekte erzielt. Es war nicht vorhersehbar, auch nicht im Hinblick auf die Druckschrift (5), daß dieser Wert kritisch sein kann. Während es noch als naheliegend zu bezeichnen war, angeregt durch die Druckschrift (5), einen Polabstandsbereich zu finden, der allgemein zu einer Verbesserung der Blutzirkulation führt, wurde nunmehr für eine modifizierte Magnetfolie ein genauer Wert gefunden, der die Behandlung spezifischer medizinischer Beschwerden gestattet.
Bei ungewöhnlichen therapeutischen Methoden, wo Wiederholbarkeit und Wirksamkeit nicht allgemein anerkannt und wegen der Abhängigkeit von verschiedensten Umständen schwer beweisbar sind, können eng definierte erfolgreiche Heileffekte kaum als vorhersehbar betrachtet werden, insbesondere wenn sie nur mit geänderten Mitteln erzielt werden.
Die Kammer hat keine Veranlassung, an der Aussage des Beschwerdeführers und der Richtigkeit der Untersuchungsergebnisse, insbesondere der Doppelblindstudie, zu zweifeln. Die damalige Beschwerdegegnerin hat die Wirksamkeit der erfindungsgemäßen Magnetpflaster weder für den im Streitpatent beanspruchten Polabstandsbereich von 4 bis 10 mm noch für den im erteilten Patent besonders hervorgehobenen und nunmehr beanspruchten Polabstand von 5 mm in Frage gestellt; vielmehr hat sie auf Seite 5 ihrer Eingabe vom 16. Mai 1988 diese Wirksamkeit eingeräumt. Sie hat auch nicht durch Vorlage von Vergleichsversuchen oder Gegenbeweisen widerlegt, daß bei den erfindungsgemäßen Wechselmagnetfolien mit einem Polabstand von 5 mm ein Optimum an analgetischer Wirksamkeit, d. h. ganz besondere Heileffekte auftreten.
Die Kammer muß daher davon ausgehen, daß es sich bei dem erfindungsgemäß aus einem naheliegenden Bereich ausgewählten Polabstand von 5 mm um einen besonderen Wert handelt, der den erfindungsgemäßen Magnetpflastern in spezifischen Fällen eine hochsignifikant analgetische Wirksamkeit verleiht. Hierdurch wird erfinderische Tätigkeit begründet. Es ist möglich, daß andere Beschwerden, die ähnlich behandelt werden sollen, andere Polabstandswerte verlangt hätten.
6.3 Die übrigen im Verfahren befindlichen Druckschriften (2) bis (4) haben den speziellen Wert von 5 mm für den Polabstand nicht nahegelegt. Zwar zeigen die Figuren 2, 3 und 4 der Druckschrift (3) Bänder mit abwechselnd positiv und negativ magnetisierten Bereichen. Ein Polabstand von 5 mm wird jedoch auch hier weder offenbart noch nahegelegt. Vielmehr läßt Figur 7 vermuten, daß der Polabstand wesentlich größer ist. Die Druckschriften (2) und (4) offenbaren keine magnetisierten Bereiche abwechselnder Polung.
6.4 Das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit in den Gegenständen der Ansprüche 1 und 10 ist daher anzuerkennen.
7. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 10 erfüllen mithin die Voraussetzungen der Patentfähigkeit gemäß Artikel 52 (1) EPÜ.
Die auf den Anspruch 1 zurückbezogenen Ansprüche 2 bis 9 bleiben mit diesen bestehen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Maßgabe, das europäische Patent in geändertem Umfang mit den unter Ziffer VIII genannten Unterlagen aufrechtzuerhalten.