BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.1 vom 21. September 1995 - T 422/93 - 3.3.1*
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | A. J. Nuss |
Mitglieder: | P. Bracke |
W. Moser |
Patentinhaber/Beschwerdeführer: Jalon, Michel
Einsprechender/Beschwerdegegner: GAO Gesellschaft für Automation und Organisation mbH
Stichwort: lumineszierende Sicherheitsfasern/JALON
Schlagwort: "Neuheit (bejaht)" - "erfinderische Tätigkeit (bejaht) - nicht naheliegende Alternative" - "Definition des Fachmanns"
Leitsätze
1. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" ist für die Bestimmung des maßgebenden Fachmanns - unabhängig davon, ob in dem betreffenden Patent eine andere Definition des Fachmanns gegeben wird - auf die technische Aufgabe abzustellen, die ausgehend von der Offenbarung im nächstliegenden Stand der Technik gelöst werden soll.
2. Da die technische Aufgabe einer Erfindung so zu formulieren ist, daß sie keine Lösungsansätze enthält, kann - wenn die Formulierung der Aufgabe und der Lösungsvorschlag unterschiedlichen technischen Gebieten zuzuordnen sind - als
Fachmann nicht der Experte desjenigen technischen Gebiets berufen sein, auf dem die vorgeschlagene Lösung angesiedelt ist.
3. Das allgemeine Fachwissen des maßgebenden Fachmanns umfaßt keine Spezialkenntnisse auf dem anderen technischen Gebiet, auf dem die vorgeschlagene Lösung angesiedelt ist, wenn der nächstliegende Stand der Technik keinerlei Hinweis darauf enthält, daß die Lösung dort zu suchen ist.
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 85 401 148.3 wurde das europäische Patent Nr. 0 169 750 mit 9 Ansprüchen erteilt; die Ansprüche 1 bis 5 waren auf ein Verfahren zur Herstellung von Sicherheitsfasern u. ä. gerichtet, die Ansprüche 6 bis 9 betrafen nach einem solchen Verfahren hergestellte Fasern sowie Dokumente, die derartige Fasern enthalten. Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Verfahren zur Herstellung von Sicherheitsfasern, Sicherheitsfäden, Textilmaterialien, Plastikfolien oder Folien aus regenerierter Zellulose, natürlichen, künstlichen oder synthetischen Harzen, welche durch die Einbringung von lumineszierenden Lanthanid-, Yttrium- oder Thorium-Chelaten lumineszieren, dadurch gekennzeichnet, daß die Einbringung von lumineszierenden Chelaten in einem Stadium nach der Fertigung, bei der diese Chelate nicht eingesetzt wurden, mittels eines Färbeverfahrens, umfassend ein flüssiges Färbebad, das mindestens eines dieser lumineszierenden Chelate und gegebenenfalls einen in diesem Färbebad gelösten Farbstoff zum Färben enthält, erfolgt"
II. Der Beschwerdegegner (Einsprechende) legte Einspruch gegen das Patent ein und beantragte seinen Widerruf wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit und unzureichender Offenbarung (Art. 83 EPÜ). Im Einspruchsverfahren selbst machte er außerdem mangelnde Neuheit geltend, verfolgte aber den Antrag auf Widerruf wegen mangelnder Offenbarung nicht mehr weiter.
Im Einspruchsverfahren wurden insbesondere folgende Entgegenhaltungen angezogen:
(0) EP-A-0 066 854:
(3) "Synthesefasern, Grundlagen, Technologie, Verarbeitung und Anwendung", Verlag Chemie, 1981, Seiten 283 - 289, Absatz 7.3;
(6) GB-A-713 351 und
(7) FR-A-1 522 465.
III. Mit einer am 18. Februar 1993 verkündeten und am 3. März 1993 zugestellten Entscheidung widerrief die Einspruchsabteilung das Patent. Sie hielt das beanspruchte Verfahren zwar für neu, aber nicht für erfinderisch.
Bezüglich der Neuheit vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, daß sich das beanspruchte Verfahren von dem in der Entgegenhaltung 7 beschriebenen dadurch unterscheide, daß die Chelate durch einen Färbevorgang in die Materialien eingebracht würden, während sie bei dem bekannten Verfahren als Überzug auf die Oberfläche aufgetragen würden.
Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit betrachtete die Einspruchsabteilung die Entgegenhaltung 0 als nächstliegenden Stand der Technik. Den wesentlichen Unterschied zwischen dem dort beschriebenen und dem beanspruchten Verfahren sah sie darin, daß letzteres es ermögliche, ein Material durch Einbringung von lumineszierenden Lanthanid-, Yttrium- oder Thorium-Chelaten in einem Färbevorgang lumineszierend zu machen, statt diese Chelate der Masse beizugeben, aus der das Material extrudiert wird. Da die Herstellung von Sicherheitsfasern mit Hilfe fluoreszierender Stoffe aus der Entgegenhaltung 6 vorbekannt sei und aus der Entgegenhaltung 7 hervorgehe, daß Lösungen mit mindestens einem lumineszierenden Seltenerd-Chelat als Flüssigbäder zur Faseraufbereitung verwendet werden könnten, ergebe sich das beanspruchte Verfahren in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik.
IV. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und machte im wesentlichen geltend, daß die Ansprüche 1 bis 5 in der erteilten Fassung neu und erfinderisch seien. ...
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Hauptantrag
2. Neuheit
2.1 Als für Anspruch 1 neuheitsschädlich wurde im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren nur die Entgegenhaltung 7 angezogen.
Der Beschwerdegegner brachte vor, daß diese Entgegenhaltung für den Anspruch neuheitsschädlich sei, denn sie offenbare Zusammensetzungen mit mindestens einem in einem Lösungsmittel gelösten oder dispergierten Seltenerd-Chelat (siehe Anspruch 1, Seite 1, rechte Spalte, Zeilen 29 - 39; Seite 2, linke Spalte, Zeilen 6 und 7, sowie rechte Spalte, Zeilen 29 und 35) sowie das Auftragen solcher Zusammensetzungen auf Trägermaterialien wie z. B. Plastikfolien oder -fäden (siehe Seite 2, linke Spalte, Zeilen 8 - 11; rechte Spalte, Zeilen 14 - 15, und Seite 3, linke Spalte, Zeile 31). Da in diesem Zusammenhang von "Färbung" die Rede sei (siehe Seite 2, linke Spalte, Zeile 8; rechte Spalte, Zeile 50, und Seite 3, linke Spalte, Zeilen 16 - 17), nehme die Entgegenhaltung 7 alle Merkmale des beanspruchten Verfahrens vorweg.
Zwar wird in der Entgegenhaltung 7 das Auftragen von Zusammensetzungen mit mindestens einem in einem Lösungsmittel gelösten oder dispergierten Seltenerd-Chelat beschrieben, doch kann sich die Kammer dem Beschwerdegegner in der Auslegung des Begriffs "Färbung" in der betreffenden Passage nicht anschließen.
2.2 Unter dem Begriff "Färbung" ist nämlich mindestens zweierlei zu verstehen, und zwar
a) eine Zusammensetzung oder Substanz, die sich für den Vorgang des Färbens eignet, die also in ein Material im Sinne einer innigen Durchdringung mit einem Farbmittel eingebracht werden kann, und
b) ein Farbmittel (z. B. eine Substanz, eine Flüssigkeit, ein Bad), das dazu dient, ein Material farbig zu machen, d. h. ihm Farbe zu verleihen.
Tatsache ist, daß i) die Entgegenhaltung 7 Zusammensetzungen für Überzüge betrifft (siehe Seite 1, linke Spalte, Zeilen 1 - 7, und rechte Spalte, Zeilen 22 - 28 sowie 29 - 33, und Anspruch 1), ii) in der Entgegenhaltung wiederholt gesagt wird, die "Färbung" werde auf eine Unterlage aufgetragen, aufgebracht oder aufgestrichen (siehe Seite 2, linke Spalte, Zeilen 9 - 11; rechte Spalte, Zeilen 49 - 53, und Seite 3, linke Spalte, Zeilen 16 - 20) und iii) nirgends darauf hingewiesen wird, daß diese "Färbungen" ein Eindringen des Farbmittels in das zu behandelnde Material bewirken sollen; aus diesem Grund kann der Begriff "Färbung" in der Entgegenhaltung 7 nicht in der spezifischen Bedeutung einer Zusammensetzung verstanden werden, die das zu färbende Material zu durchdringen vermag, sondern vielmehr nur in der wesentlich allgemeineren Bedeutung, nämlich als Zusammensetzung, die ein Material durch Auftragen des jeweiligen Farbmittels (z. B. Anstrichstoff, Druckfarbe) "farbig" macht.
Da es bei dem Verfahren nach Anspruch 1 um die Einbringung lumineszierender Chelate, d. h. um deren Einlagerung in das zu färbende Material geht (siehe Spalte 3, Zeilen 6 - 13 des Streitpatents) und das Material ebenso wie die jeweils verwendeten Farbmittel unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden müssen, je nachdem, ob nur ein farbiger Überzug hergestellt oder ob ein Farbmittel in das Material eingebracht werden soll, müssen sich die Merkmale des in der Entgegenhaltung 7 beschriebenen Verfahrens zwangsläufig von denen des beanspruchten Verfahrens unterscheiden. Dies wird durch die Tatsache erhärtet, daß der Beschwerdegegner Beispiel 6 der Entgegenhaltung in der mündlichen Verhandlung nicht mehr als neuheitsschädliche Offenbarung betrachtete, was insofern nicht überrascht, als das in diesem Beispiel verwendete Bad einen für Anstrichstoffe charakteristischen Weichmacher enthält. Die Kammer schließt daraus, daß die Entgegenhaltung 7 für Anspruch 1 nicht neuheitsschädlich ist.
Keine der übrigen Entgegenhaltungen offenbart die Merkmale des Verfahrens nach Anspruch 1 in ihrer Gesamtheit. Folglich gilt das beanspruchte Verfahren als neu.
3. Erfinderische Tätigkeit
Bei der Erörterung der erfinderischen Tätigkeit ist der Begriff "Färbung" im folgenden als eine Zusammensetzung oder Substanz zu verstehen, die sich entsprechend der Bedeutung nach Nr. 2.2 a) für den Vorgang des Färbens eignet.
3.1 Da es in dem beanspruchten Verfahren um die Einbringung von Seltenerd-Chelaten in Sicherheitsfasern u. ä. geht und nur in der Entgegenhaltung 0 ein Verfahren beschrieben ist, bei dem derartiges bereits realisiert wurde, betrachtet die Kammer die Entgegenhaltung 0 als nächstliegenden Stand der Technik.
Damit ist die Entgegenhaltung 0 der maßgebliche Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. Denselben Ausgangspunkt - der einer der beiden vom Beschwerdegegner in Erwägung gezogenenen Möglichkeiten entspricht - hatte auch die Einspruchsabteilung zugrunde gelegt.
3.2 Die Entgegenhaltung 0 beschreibt Fasern und Fäden aus Celluloseacetat mit gleichmäßig in der Masse verteilten Lanthanid-Chelaten, zu deren Herstellung eine acetonische Lösung von Celluloseacetat mit einer acetonischen Lösung des Lanthanid-Chelats gemischt und die Mischung anschließend zu einer feinen Faser versponnen wird (siehe Ansprüche 1 und 12 und Seite 5, Zeilen 1 - 8 der Beschreibung).
3.3 Im Streitpatent heißt es, daß die Herstellung von Sicherheitsfasern gemäß Entgegenhaltung 0 insofern einen erheblichen Nachteil aufweise, als sich das Verfahren nicht zur Herstellung geringer Mengen eigne (siehe Spalte 2, Zeile 55, bis Spalte 3, Zeile 5).
3.4 Ausgehend von der Offenbarung der Entgegenhaltung 0 bestand die Aufgabe folglich in erster Linie darin, ein alternatives Verfahren zur Einbringung von Seltenerd-Chelaten bereitzustellen, mit dem auch Fertigungszyklen für die geringen Mengen an Sicherheitsfasern gefahren werden konnten, die von den einschlägigen Unternehmen verarbeitet werden (siehe Spalte 3, Zeilen 14 - 22 des Streitpatents).
3.5 Im Streitpatent wird diese Aufgabe durch ein Färbeverfahren gemäß Anspruch 1 gelöst (siehe Nr. I).
Anhand der Beispiele 1 und 2, die zwei Ausführungsformen des beanspruchten Verfahrens beschreiben, wurde glaubhaft gemacht, daß die technische Aufgabe mit dem beanspruchten Verfahren tatsächlich gelöst wird, was der Beschwerdegegner auch nicht in Frage gestellt hatte.
3.6 Es bleibt somit zu prüfen, ob die beanspruchte Lösung erfinderisch ist.
3.6.1 Die Einspruchsabteilung ging aufgrund der Angaben in der Entgegenhaltung 0 davon aus, daß ein Experte für Faserfärbung der maßgebende Fachmann sei und die technische Aufgabe darin bestehe, die Einbringung fluoreszierender Chelate in die Spinnmasse zu ersetzen durch ein gebräuchliches Verfahren zur Färbung bereits gesponnener Fasern. Da die Lehre der Entgegenhaltung 6 im wesentlichen dieser Aufgabenlösung entspricht und die Seltenerd-Chelate aus der Entgegenhaltung 7 bekannt sind, gelangte die Einspruchsabteilung zu dem Schluß, daß sich das beanspruchte Verfahren in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergebe (siehe Nr. 2.2.3 der angefochtenen Entscheidung).
Die Einführung eines Seltenerd-Chelats im Wege eines Färbeverfahrens ist hier jedoch zweifellos Teil der Lösung der technischen Aufgabe (siehe Nrn. 3.4 und 3.5). Folglich kann der Experte auf dem Gebiet des Färbens nicht der zur Aufgabenlösung berufene Fachmann sein, denn die Idee, Seltenerd-Chelate durch ein Färbeverfahren einzubringen, ist gerade das Entscheidende an dem Lösungsvorschlag. Nach Auffassung der Kammer war zur Aufgabenlösung demnach nicht der Experte für Färben, sondern der Fachmann für Sicherheitsmaterialien berufen, der u. a. auf die Kennzeichnung (Identifizierung, Echtheitsbestimmung usw.) und den Schutz von Sicherheitspapieren und ähnlichen Materialien (vor Nachahmung, Nachbildung und Fälschung) spezialisiert ist.
Die Kammer schließt nicht aus, daß sich die Einspruchsabteilung bei der Definition des Fachmanns und der technischen Aufgabe von einer Passage des Streitpatents beeinflussen ließ, die da lautet: "Der Fachmann, im vorliegenden Fall ein Experte für das Färben von Fasern ... " (siehe Spalte 2, Zeilen 40 und 41).
Objektiv muß man diese Textstelle jedoch im Kontext des gesamten Abschnitts (siehe Zeilen 40 - 49) interpretieren, wo es lediglich heißt, daß die vorgeschlagene Lösung nicht naheliegend sei, weil ein Färbeverfahren mit Seltenerd-Chelaten im Stand der Technik nicht bekannt sei.
Die Idee, Seltenerd-Chelate gemäß dem Verfahren nach Anspruch 1 durch ein Färbeverfahren in bereits hergestellte Sicherheitsfasern u. ä. einzuführen, ist in der Tat wesentlicher Teil der erfindungsgemäßen Lehre, die ihren Niederschlag in der Aufgabenlösung gefunden hat. Die technische Aufgabe einer Erfindung ist aber so zu formulieren, daß sie keine Lösungsansätze enthält; denn das Einbeziehen eines Teils eines Lösungsgedankens aus der Erfindung in die Aufgabe muß bei der Bewertung des Standes der Technik unter dem Aspekt dieser Aufgabe zwangsläufig zu einer retrospektiven Betrachtungsweise der erfinderischen Tätigkeit führen (siehe T 229/85, ABl. EPA 1987, 237).
3.6.2 Somit bleibt zu prüfen, ob die Entgegenhaltungen 6 und 7 einen Hinweis auf die Einbringung von Seltenerd-Chelaten mittels eines Färbeverfahrens enthalten. ...
3.7 Aus dem oben Gesagten ergibt sich, daß Anspruch 1 des Hauptantrags das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 52 (1) und 56 EPÜ erfüllt.
3.8 Die Ansprüche 2 bis 5, die besondere Ausführungsformen des Anspruchs 1 betreffen, werden von dessen Patentfähigkeit mit getragen.
4. Die Einspruchsgründe nach Artikel 100 EPÜ stehen der Aufrechterhaltung des Patents gemäß Hauptantrag nicht entgegen. Unter diesen Umständen erübrigt es sich, die Hilfsanträge zu prüfen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage des Hauptantrags aufrechtzuerhalten (vgl. Nr. VII).
* Die Entscheidung ist hier nur auszugweise abgedruckt. Eine Kopie der ungekürzten Entscheidung in der Verfahrenssprache ist bei der Informationsstelle des EPA München gegen Zahlung einer Fotokopiergebühr von 1,30 DEM pro Seite erhältlich.